Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Nixenmagier

Nixenmagier

Titel: Nixenmagier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helen Dunmore
Vom Netzwerk:
träge dasitze und mein Frühstück mampfe, während ich zur gleichen Zeit die Hügel hinabspringen und Hasen jagen könnte.
    »Sie ist heute voller Tatendrang«, sagt Granny Carne, indem sie von ihrem grünen Notizbuch aufblickt. Während ich gegessen habe, hat sie ununterbrochen geschrieben – mit einem altmodischen Stift, den sie zwischendurch in ein Tintenfass taucht. So einen Stift habe ich noch nie gesehen. Ich versuche, die auf dem Kopf stehende Schrift zu entziffern,
doch es gelingt mir nicht. Sie ist schwarz und eckig und scheint mir unbekannte Buchstaben zu haben. Vielleicht ist das ihr Zauberbuch, denke ich. Molchesaug’ und Unkenzehe, Hundemaul und Hirn der Krähe , wie in Macbeth – das Theaterstück, das wir gerade in der Schule durchnehmen. Mein Gesicht muss mich verraten haben, denn plötzlich sieht Granny Carne mich fragend an.
    »Ist das ein Kochrezept, das Sie aufschreiben?«, frage ich rasch, damit sie mir nicht auf die Schliche kommt.
    »Nein«, antwortet Granny Carne. »Ich trage Sadie in das Buch des Lebens ein.«
    »Ist das eine Art Biografie?«
    »Viel mehr als das. In einer Biografie geht es nur um die Vergangenheit.«
    »Aha.«
    »Sadie ist noch jung, also wird es bei ihr hauptsächlich um die Zukunft gehen.«
    »Gibt es das Buch des Lebens auch für Menschen?«
    »Natürlich. Jeder von uns ist darin vorhanden.«
    Sobald Granny Carne dies ausgesprochen hat, sehne ich mich danach, einen Blick in das Buch zu werfen und die Zukunft kennenzulernen. Könnte ich doch nur sehen, dass Dad zu uns zurückkehrt – nicht als Mer, sondern als Mensch.
    »Hat schon jemals irgendwer darin gelesen?«
    »Nein«, antwortet sie und legt ihren Stift hin. »Versuch es auch gar nicht erst, mein Mädchen. Diese Worte können dich blind machen.« Ihre Augen funkeln mich an.
    Ich hole tief Luft. Meine Stimme überschlägt sich fast, doch ich kann nicht anders. »Ich muss darin lesen, Granny Carne. Sonst würde ich nicht danach fragen. Ich muss!«

    »Nein, mein Mädchen.«
    »Bitte! Sie wissen nicht, wie wichtig das für mich ist.« Granny Carne sieht mich durchdringend an. »Du weißt nicht, wonach du da fragst.« Sie wiegt das Buch in ihren Händen. Dann scheint sie es sich plötzlich anders zu überlegen. Sie hält das grüne Notizbuch in die Luft, offen und mit der Innenseite nach außen.
    Es ist ein ganz normales Notizbuch. Kein Zauberbuch oder dergleichen – was für eine lächerliche Annahme. Die Magie von Granny Carne ist anders.
    »Das Buch des Lebens allein hat keine besondere Kraft«, sagt sie leise. »Es kommt darauf an, was man hineintut. Was du hineintust, mein Mädchen.«
    Sie hält mir immer noch die Schrift entgegen, doch ich kann sie nicht lesen. Sie ist zu klein – oder es ist zu schwierig für mich …
    Granny Carne beginnt, die Seiten umzublättern, erst langsam, dann immer schneller. Es sind viel mehr Seiten, als in einem schmalen Notizbuch Platz haben. Die Seiten flattern, als würden sie von einem starken Wind erfasst. Ich stehe auf und beuge mich verzweifelt vor, in der Hoffnung, einige Wörter aufzuschnappen und damit einen Tropfen der Zukunft aufzufangen. Doch anstatt sich zu einem Sinn zusammenzufügen, schwärmen die Wörter wie Bienen über das cremefarbene Papier.
    Können Wörter sich so bewegen, nachdem sie aufgeschrieben wurden? Sie schreiben sich selbst, kringeln und schlängeln sich, ballen sich zusammen und schwirren summend über die Seite. Sie sind zornig. Zornig, weil sie von einem Fremden in ihrem Bienenstock aufgeschreckt wurden. Jeden Moment werden sie die Seite verlassen, mich
angreifen und so lange stechen, bis ich blind bin. Ich halte mir die Hände vors Gesicht, um sie abzuwehren. Das Summen der Wörter schwillt bedrohlich an und schrillt in meinen Ohren. Ich trete zurück. Ein Stuhl klappert. Ich stolpere und versuche, die Balance zu wahren, stürze beinahe zu Boden. Die Wortbienen umschwirren mich, jederzeit zum Angriff bereit.
    »Granny Carne! Das wollte ich nicht! Bitte …«
    Plötzlich verstummt der Lärm, als wäre eine Tür geschlossen worden.
    »Alles in Ordnung, mein Mädchen.«
    Langsam senke ich meine Hände. Granny Carnes grünes Notizbuch ist geschlossen und sieht völlig harmlos aus.
    »Du musst dich geschickt verhalten«, sagt sie. »Wer sich den Bienen zornig nähert, wird auch ihren Zorn provozieren. Dieses Buch ist nicht für deine Augen bestimmt, Sapphire, ganz gleich ob es dein Leben berührt oder nicht. Du darfst es nicht lesen. Vergiss das

Weitere Kostenlose Bücher