Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Nixenmagier

Nixenmagier

Titel: Nixenmagier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helen Dunmore
Vom Netzwerk:
deine Kinder sind?«
    »Nein«, antwortet Dad. »Ich habe nichts vergessen. Nichts von alldem. Kein Wort, dass du je zu mir gesagt hast. Nicht einen einzigen Blick. Keinen Tag deiner Kindheit. Aber ich kann nicht nach Hause kommen.«
    »Und Mum? Willst du nicht wissen, wie es ihr geht?«
    »Deiner Mutter geht es besser ohne mich«, sagt Dad. »Sie hat Indigo immer gefürchtet, und sie hatte recht damit.«

    »Aber warum? Warum hat Mum schon immer Angst vor dem Meer gehabt?« Ich erinnere mich an Conors Geschichte von der Wahrsagerin. Jetzt muss mir Dad alles erzählen. Ich fürchte, dass es noch mehr Geheimnisse gibt, die meine Familie ein zweites Mal zerstören könnten.
    »Eine Wahrsagerin hat Mum erzählt, dass der Mann, den sie liebt, sie einst durch das Wasser verlieren würde. Der Mann, den du liebst, wird dich durch das Wasser verlieren. Hüte dich vor dem Meer. Das Meer ist die größte Gefahr für dich« , sagt Dad, und es klingt, als würde er einen altbekannten Text aufsagen.
    »Und Mum hat daran geglaubt?«
    »Ja, sie glaubte, dass nichts passieren kann, wenn sie sich nur vom Meer fernhält.« Dads Stimme klingt traurig. Es hört sich so an, als sei Mum eine Person, die er vor langer Zeit, in einem früheren Leben gekannt hat.
    »Wir sind dir egal!«, sage ich bitter. »Du hast uns vergessen. Wir bedeuten dir nichts mehr.«
    »Ich habe nichts vergessen«, flüstert mein Vater. Warum flüstert er? Warum schreit er mich nicht an? Dad hätte mich angeschrien, wenn ich so mit ihm geredet hätte. Dad wäre aus der Haut gefahren und hätte die Tür zugeknallt. Später wäre er wiedergekommen, hätte mich umarmt und gesagt: Tut mir leid, Sapphy! Ich habe die Beherrschung verloren, weil du mich so provoziert hast. Mich überkommt eine große Traurigkeit, die meinen Zorn verdrängt.
    Das Wasser beginnt wieder zu steigen – oder sinkt mein Vater in die Tiefe? Das Wasser wirbelt um seine Brust, seine Schultern und seinen Hals. Der Mond scheint auf sein Gesicht. Er sieht seltsam aus. Fremdartig. Ein Mer. Unter Wasser streckt er seine Arme nach mir aus.

    Wie gerne würde ich zu ihm schwimmen, ihn fest in die Arme schließen und nie, nie wieder gehen lassen. Doch habe ich mehr Angst als je zuvor. Er ist mein Dad, aber er ist auch ein Fremder. Einer der Mer. Das Wasser ist wie ein glänzender schwarzer Vorhang, der meinen wirklichen Vater von mir trennt.
    »Gib Conor Bescheid«, sagt Dad, als das Wasser seine Lippen erreicht. »Warne ihn vor der Gef…«
    Doch Indigo nimmt ihn zu sich, noch ehe das Wort seinen Mund verlässt. Er sinkt in die Tiefe, unter die Haut des mondbeschienenen Wassers. Sein Gesicht ist mir immer noch zugewandt, seine Augen blicken mich an, bis sie vom Wasser bedeckt werden. Während er vom Becken verschlungen wird, schäumt und brodelt das Wasser, als würde ein riesiges Wesen in ihm um seine Freiheit kämpfen. Ich sehe seinen dunklen Schatten über den Rand des Beckens hechten und stromabwärts verschwinden.
    Die Wasseroberfläche erzittert, bevor sie wieder spiegelblank daliegt. Nur die Granitblöcke bleiben zurück, die sich über den Rand des Beckens lehnen.

Sechstes Kapitel

    I ch wundere mich, dass Granny Carne mich gar nicht fragt, was letzte Nacht passiert ist. Bestimmt hat sie nicht durchgeschlafen, so wie die meisten alten Leute. Doch anstatt mich zu fragen, geht sie weiter ihren morgendlichen Tätigkeiten nach – versorgt den Ofen, füttert Sadie und bereitet das Frühstück zu.
    »Hast du gut geschlafen, mein Mädchen?« ist alles, was sie sagt. Ihre Miene ist unergründlich und lädt nicht gerade zum Gespräch ein. Ich nicke, während ich meinen Mund mit Brot und Honig fülle, um nichts sagen zu müssen. Doch bemerke ich ein Funkeln in Granny Carnes Augen, das den Eindruck erweckt, sie würde ihren Spaß mit mir treiben. Im Grunde bin ich froh darüber. Das befreit mich von der Gefühlsstarre, die das Treffen mit Dad verursacht hat.
    Ich hatte gestern Nacht keinen Gedanken daran verschwendet, wie ich wieder ins Haus zurückkommen sollte. Es war ein Leichtes, aus dem Fenster zu springen, doch viel schwieriger, wieder hineinzuklettern. Ich hatte verschiedene Szenarios in meinem Kopf: Ich wollte bis zum Morgen warten und dann so tun, als hätte ich einen frühen Spaziergang gemacht; ich würde eine Leiter im Schuppen finden; es würde mir gelingen, eines der unteren Fenster zu öffnen … Doch als ich einfach zur Haustür ging und den Griff hinunterdrückte, glitt sie geräuschlos

Weitere Kostenlose Bücher