Nixenmagier
Gezeitenknoten?«
»Kommt mit mir.«
Saldowr führt uns durch dichten Wald, der Mündung der Höhle entgegen, hält plötzlich inne und taucht zum Meeresboden hinab. Sand wirbelt auf und trübt das Wasser. Er scheint mit einem heftigen Widerstand zu kämpfen. Sein Umhang ist ihm von den Schultern geglitten, deren schwellende Muskeln von großer Anstrengung zeugen. Als das Wasser wieder klar wird, erkennen wir, dass er einen großen Stein emporhebt. Einen glatten, schwarzen Stein, der vom Wasser, das ihn seit ewigen Zeiten umspült, wie poliert aussieht.
»Es ist… ein Schlussstein«, flüstert Conor.
Er hat recht. Als Saldowr den Schlussstein anhebt, beginnt sich seine Struktur zu verändern. Ein feiner Riss geht durch ihn hindurch und lässt ein bläuliches Zickzackmuster
entstehen. Saldowr setzt ihn in eine Felsvertiefung und schwimmt zu uns zurück. Er legt seine Hände auf unsere Schultern. »Seht euch das an!«, sagt er.
Der Stein beginnt sich zu teilen. Durch den sanft aufwirbelnden Sand hindurch sehen wir, wie sich im Stein eine kreisrunde Öffnung bildet. Zunächst ist sie ungefähr so groß wie eine Pflaume, dann wie ein Apfel, dann wie eine Wassermelone. Schließlich ist sie so groß, dass ich sie mit meinen Armen nicht umfassen könnte.
»Nicht zu nah!«, warnt Saldowr, während sein Griff um meine Schulter fester wird. Ich hatte unbewusst einen Schritt nach vorne gemacht. »Er öffnet sich immer noch.«
Wir können nicht ins Innere des Steins hineinblicken. Ein blaues Licht flackert darin. Plötzlich fährt mir der Schreck in die Glieder. All die Horrorgeschichten über Meeresungeheuer, die in der Tiefe leben, fallen mir wieder ein. Das Loch im Stein verbirgt womöglich einen Tintenfisch, dessen Fangarme so lang sind, dass sie uns erreichen und in die Tiefe ziehen können.
Der Stein kommt zur Ruhe.
»Der Mund der Gezeiten ist geöffnet«, sagt Saldowr. Kommt ein wenig näher und schaut hinein.«
Doch erblicke ich weder Ungeheuer noch Seeschlangen, weder Tintenfische noch Riesenkrabben. Was wir zu sehen bekommen, gleicht eher einem Juwel. Der Mund der Gezeiten enthält einen Wasserknoten, der aus unzähligen ineinander verschlungenen Strängen besteht. Der Knoten selbst scheint so kompliziert, als wäre er niemals zu entwirren. Die einzelnen Stränge sind zu einem undurchschaubaren Muster verflochten, das nur für einen Augenblick Bestand hat, ehe seine Struktur sich verändert und ein neues
Muster bildet. So geht es in einem fort, und ich frage mich, wie viele Muster es schon gegeben haben mag.
»Die Muster sind so zahlreich wie die Sandkörner auf dem Grund des Meeres«, sagt Saldowr. »Aber du darfst sie nicht zu lange anschauen. Selbst ich habe mich von ihrer Vielfalt verzaubern lassen und war gerade noch rechtzeitig in der Lage, mich von ihrem Anblick loszureißen.«
Ich zwinkere und wende den Kopf ab. Die Windungen dringen in mein Bewusstsein, so geschmeidig und kraftvoll wie Schlangen.
»Dies ist der Gezeitenknoten«, sagt Saldowr. »Er steuert die Gezeiten und zeigt ihnen die Muster, denen sie folgen müssen.«
»Ich dachte, die Gezeiten folgen dem Mond«, sagt Conor.
»Ja«, stimme ich zu, während ich mich erinnere. »Die Gezeiten sind der Mond, der zu Indigo spricht. Das hat Faro mir erzählt.«
Saldowr nickt. »Es stimmt, dass die Gezeiten derselben Musik folgen wie der Mond. Doch sind sie nicht seine Gefährten und können der Musik nur so weit folgen, wie es der Gezeitenknoten erlaubt. Es ist der Knoten, der die Gezeiten kontrolliert. Er lässt sie gehen und holt sie zurück. Sie müssen seinem Muster folgen – solange der Koten hält. Wir haben immer geglaubt, der Knoten hielte bis ans Ende aller Tage.«
Seine Stimme klingt besorgt. Saldowr betrachtet den Gezeitenknoten wie ein Arzt einen Patienten, der an einer unbekannten Krankheit leidet. »Doch nun haben wir Anlass zur Befürchtung, dass der Knoten sich löst«, fährt er mit leiser Stimme fort. Erneut rieselt ein Schauder durch mich hindurch. Der Gezeitenknoten verschlingt sich zu
immer neuen Mustern. Er sieht mir absolut stabil aus. Die Stränge drehen und winden sich, funkelnd wie Juwelen. Sie sind voller Kraft und Schönheit. Ich könnte ihm ewig zusehen und niemals würde sich ein Muster wiederholen …
»Sieh nicht zu lange hin!«, wiederholt Saldowr eindringlich.
»Ich kann gar nicht erkennen, dass sich die Stränge voneinander lösen«, sagt Conor.
»Die Veränderungen, die ich beobachte, sind sehr klein.
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