nmp12
Barrière de Reuilly.
Aber nur, wenn man sich hinauslehnt! Das Mädchen in dem Zimmer kann das wohl
nicht mehr. Ein sehr hübsches junges Mädchen von zwanzig Jahren, mit langen
blonden Haaren bis auf die Schultern. Sehr klare, jedoch traurige Augen und
eine schöne Nase in dem zarten ovalen Gesicht. Aber sie hat fast keinen Hals,
der Oberkörper ist steif, wahrscheinlich durch ein Korsett gehalten. Die
unteren Gliedmaßen sind unter einer leichten Decke verborgen. Man kann sie sich
vorstellen: verkrümmt, verkrüppelt, nach dem fürchterlichen Sturz nicht mehr zu
gebrauchen. Das ist von dem jungen hübschen Mädchen übriggeblieben, das einmal
eine Freude für alle Sinne war!
„Gigi“, sagt die Mutter, die
sich wieder besser in der Gewalt hat, „das ist Monsieur Burma... ein alter Freund
von Papa...“
Bei meinem Namen hat ein
Leuchten die Traurigkeit der klaren Augen verdrängt.
„Nein, Mama“, unterbricht das
Mädchen mit leiser Stimme, „Ich hab’s im Radio gehört...“
„Dieses verdammte Radio!“ ruft
Madame Lissert.
„...und weiß, wer Nestor Burma
ist. Ich weiß auch, was ihm zugestoßen ist…“ Sie sieht mich an. „Sie hatten
mehr Glück als ich, Monsieur.“
Ich nicke zögernd, weiß nicht,
was ich sagen soll. Langsam nähere ich mich der Behinderten, nehme ihre Hand.
Dabei rutscht eine Modezeitschrift von ihren Knien (oder dem, was davon
übriggeblieben ist). Ich heb die Zeitschrift auf. Das Mädchen nimmt sie mir aus
der Hand, mit einem schwachen Lächeln zu der Frau auf dem Titelbild hin. Es ist
Mai. Anfang Mai. Die Mädchen in ihrem Alter tragen jetzt helle Kleider, schick,
mit gewagten Dekolletés, um die Jungen verrücktzumachen. Kleider, die ihre
Beine zur Geltung bringen. Und den Rest. Nie mehr! Aus und vorbei! Nur noch
Modezeitschriften, die zeigen, was sie gewesen ist, was sie sein könnte, aber nie
mehr sein wird...
Das Mädchen befreit mich aus
meiner Verlegenheit:
„Ich soll Ihnen sicher
erzählen, wie das passiert ist, nicht wahr?“
„Ja, wenn das ginge. Aber
wenn...“
„Oh! Ich will nicht sagen, daß
ich mich daran gewöhne... mein Schicksal akzeptiere... aber... darüber sprechen
kann ich... vor allem, weil ich mich jetzt frage, ob man mich nicht auch
runtergestoßen hat…“
„Mein Gott!“ schluchzt die
Mutter. „Aber du hast doch nie...“
„Als ich den Bericht im Radio
hörte... Ich weiß noch, ich habe mich hinausgebeugt, um die Menge von oben
besser sehen zu können... ich meine, mich hat jemand um die Taille gefaßt
und...“
Hm. Sicher, ich wollte mir hier
nichts anderes bestätigen lassen als meine Attentat-These. Aber ich finde, das
geht doch zu schnell. Scheint mir im nachhinein konstruiert zu sein... beim Radiohören, vor ein paar Stunden. Der Bericht hat’s
ihr eingeflüstert.
„Hören Sie“, bremse ich das
Mädchen, „wenn jemand Sie runterwerfen wollte, mußte er doch einen Grund haben.
Hatten Sie Feinde?“
„Nein. Und einen Grund... Im
Radio hieß es, daß es in Ihrem Fall auch keinen gab...“
„Ich hab der Polizei nicht
alles gesagt“, bemerke ich lächelnd.
„Ach!“
Sie lächelt ebenfalls. Nicht
dumm, die Kleine.
„Bei mir“, sagt sie
entschieden, „gab es aber wirklich keinen Grund. Genausowenig wie Feinde.“
„Ein Flirt vielleicht, der...“
„Nein.“
„Sie waren mit Freunden da?“
„Ja.“
„Erinnern Sie sich an ihre
Namen... und Adressen?“
„Natürlich.“
„Können Sie sie mir geben?“
„Gerne.“
Ich notiere drei Namen und drei
Adressen. Zwei Jungen, ein Mädchen.
„Wer saß hinter Ihnen?“
„Weiß ich nicht.“
„Einer Ihrer Freunde?“
„Nein... glaub ich nicht.“
„Also einer, den Sie nicht
kannten?“
„Vielleicht.“
„Das war abends, nicht wahr?“
„Montagabend, ja.“
Ihre Lippen zittern. Ihre Nase
auch. Wie mutig sie auch ist, die Erinnerung quält sie.
„Wie ich gelesen habe, hat
niemand so richtig Ihren Sturz beobachtet?“
„Ja, so hat man’s mir
erzählt... hinterher.“
„Der Mann gestern hieß
Lancelin. Kannten Sie jemand dieses Namens?“
„Nein.“
„Möglich, daß das nicht sein
richtiger Name war. Würde mich nicht wundern. Leider habe ich kein Foto von
ihm. Wenn Sie ihn sehen würden, vielleicht...“
„Oh! A propos Fotos!“ ruft das
Mädchen. „Mama, stellst du die Leinwand auf?“ Geneviève sieht mich leicht kokett
an. „Sie sollen sehen, wie ich früher aussah... vorher...“
Die Mutter seufzt über diesen
dummen Wunsch,
Weitere Kostenlose Bücher