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widerspricht aber nicht. Sie rollt eine Leinwand auf, nimmt die
Schutzhülle von einem Projektor und zieht die Vorhänge zu. Die Vorführung
beginnt. Die ersten Meter Film zeigen den bunten Jahrmarktsrummel. Dann
erscheint Geneviève auf der Leinwand, zusammen mit Freunden, deren Adressen und
Namen ich mir notiert habe.
„Das war Sonntagnachmittag.“
Sonntagnachmittag! Der Tag vor
dem Unfall. Keinen Sinn, die Menge unter die Lupe zu nehmen. Automatisch hab
ich nach Lancelin Ausschau gehalten. Jetzt konzentriere ich mich auf Geneviève,
fröhlich, stürmisch, überschäumend vor Freude, sprühend vor Leben. Ein so
schönes junges Mädchen!
„Da...“ Geneviève unterdrückt
ein trauriges Lachen. „Das ist Benoît, der mich von hinten umarmt. Er hat
gesagt, ich ginge wie Marilyn Monroe. Stimmt gar nicht, oder?“
„Besser“, sage ich. „Das
Herausfordernde ist weniger auffällig, aber vielleicht gerade deshalb um so gefährlicher. Ihr Gang ist wunderbar.“
Man könnte nicht müde werden,
sich diese temperamentvolle Person anzusehen, mit den wehenden Haaren...
„Aber sagen Sie mal... damals
waren Sie noch nicht blond, hm?“
„Kastanienbraun. Benoît nannte mich ,die Rote’, um mich zu ärgern. Meine Haare waren aber
kastanienbraun. Ein hübsches Wort. Weiß gar nicht, warum ich mir die Haare hab
färben lassen...“
Warum? Um die Zeit
rumzukriegen, verdammt nochmal! Kann einem bestimmt lang werden, wenn man seine
Beine nicht mehr gebrauchen kann!
Der Film ist zu Ende. Ich ziehe
die Vorhänge zurück. Madame Lissert räumt die Sachen zusammen, schneuzt sich.
„Also“, sage ich, „dann werd
ich mal gehen. Vielen Dank, daß Sie mich empfangen haben.“
„Ich war schön, nicht wahr?“ fragt
Geneviève. Tränen hängen an ihren Wimpern.
„Sie sind es immer noch.“
Müde hebt sie die Schultern,
auf denen, fast ohne Hals, der Kopf sitzt. Sie reicht mir die Hand. Wortlos
drücke ich sie ihr. Madame Lissert begleitet mich nach draußen.
Im erstbesten Bistro, an dem
ich vorbeikomme, genehmige ich mir einen Pastis. Einen doppelten. Das Bistro
liegt an der Avenue Daumesnil, Ecke Rue Cannebière. Cannebière! Marseille
verfolgt mich.
Blaue
Flecken
Kein Covet im Crépuscule. Hat bestimmt noch mit seiner Reportage zu tun. Also geh ich alleine zu dem
Retuschier-Künstler, der dem lädierten Gesicht von Lancelin, dem König des
Freien Falls, menschliche Züge verleihen sollte. Der Meister überreicht mir die
Frucht seiner Arbeit. Sie ist besser, als ich erhofft habe. Ich stecke das
Meisterwerk ein, dazu noch zwei weitere Fotos des Gastes der Morgue, jetziger
Zustand. Dem Retuscheur geb ich auf die Schnelle einen aus, dann fahre ich noch
schneller in Richtung 12. Arrondissement.
Ich
fahre in die Rue de la Brèche-aux-Loups, zwischen Rue de la Durance und Rue de
la Lancette. Lancette,
Lancelin. Warum nicht? Brèche-aux-Loups. Wolf, wo bist du? Hörst du mich?
Siehst du mich? Ich kann dein Hemd sehn... Lügner! Man sieht sofort, daß sie
kein Hemd anhat, unter ihrem Kleid. Höchstens einen Slip, wenn überhaupt.
Außerdem ist das kein Wolf. Aber vielleicht eine Wölfin? Wer weiß...
Sie sieht bei Tageslicht
genauso gut aus wie im wechselnden Licht des Jahrmarktes. Besser noch. Lange
dunkle Haare. Wunderbare Beine. Ein toller Käfer, diese Simone Blanchet, 25,
ledig, wohnhaft Rue de la Brèche-aux-Loups. Beruf? Keine Ahnung. Heute nachmittag arbeitet sie jedenfalls nicht. Nachdem ich mich
vorgestellt habe, darf ich in ihre kleine geschmackvolle Wohnung. Paßt gar
nicht zu der Fassade des Hauses. Simone Blanchet hat zwar gestern geschworen,
nie mehr wieder auf so ein Karussell zu gehen. Aber neugierig ist sie trotzdem.
Was kann der wohl von mir wollen, der gestern mit mir Achterbahn gefahren ist?
Und von dem Radio und Zeitungen berichten, daß er Privatflic ist?
Sie mustert mich. Ich mustere
sie. Wir mustern uns. Je mehr ich sie mustere, desto sicherer bin ich, daß sie
unter dem hellen Zwirn nackt ist.
„Wie geht es Ihnen?“ frage ich.
„Hab gehört, daß Sie bei dem Schaukampf der beiden Blödmänner umgekippt sind.
Und als Sie wieder aufgewacht sind, hatten Sie immer noch Angst. Ich dachte,
ich schau mal rein und erkundige mich, wie’s Ihnen geht. Und dann wollte ich
mich entschuldigen. Weil es doch auch ein wenig meine Schuld war...“
Sie lächelt mich an:
„Ach, schon gut. Heute geht’s
mir wieder besser. Vielen Dank. Ich hatte wirklich sehr große Angst. Aber das
ist jetzt vorbei.
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