No & ich: Roman (German Edition)
Rampe, während im Hintergrund die Schäfchen im Chor blöken, Mademoiselle Bertignac, Sie müssen auch einen Abschnitt über den SAMU social schreiben, die ambulante Notfallhilfe für Obdachlose, Krümel, weißt du eigentlich, dass du mit deiner Mütze wie die Fee Naseweis aussiehst, du kommst aber spät nach Hause, nein, ich will nicht, dass du es auf Tonband aufnimmst, ein Bier bitte, Mesdemoiselles, ich möchte kassieren, nein, morgen kann ich nicht, übermorgen, wenn du willst, Regenschirme wären zwecklos, die verliere ich nur, nun lassen Sie doch die Leute aussteigen, bevor Sie einsteigen.
Eigentlich weiß ich nicht, warum sie eingewilligt hat. Einige Tage später ging ich wieder hin, sie war vor dem Bahnhof, vor der Polizei-Außenstelle ist ein regelrechtes Obdachlosenlager mit Zelten, Kartons, Matratzen und so, sie stand da und unterhielt sich mit ihnen. Als ich zu ihr ging, richtete sie sich zu ihrer vollen Größe auf und stellte sie mir ganz ernsthaft und zeremoniös vor, Roger, Momo und Michel, und dann, mit der Hand auf mich zeigend: Lou Bertignac, sie ist wegen eines Interviews mit mir hier. Momo grinste, er hatte nicht mehr viele Zähne, Roger streckte mir die Hand hin, und Michel zog ein mürrisches Gesicht. Roger und Momo wollten ebenfalls von mir interviewt werden, sie fanden es lustig, Roger hielt seine Faust wie ein Mikro unter Momos Kinn, also Momo, wie lange hast du schon nicht mehr gebadet, ich fühlte mich ziemlich unwohl in meiner Haut, versuchte mir aber nichts anmerken zu lassen, ich erklärte, es sei für die Schule (damit sie nicht etwa dachten, sie kämen in die Abendnachrichten) und die Untersuchung betreffe ausschließlich Frauen. Roger sagte, an allem seien nur die Regierungsluschen schuld, alle Politiker seien Arschlöcher, ich nickte, jedenfalls war man besser immer einverstanden, dann zog er aus einer Plastiktüte ein Stück alte Salami, schnitt einige Scheiben ab und bot sie allen in der Runde an, nur Momo nicht (wahrscheinlich, weil er sie mit seinen paar Zähnen nicht hätte beißen können). Ich traute mich nicht abzulehnen, obwohl mir zugegebenermaßen nicht sehr danach war, doch ich hatte zu große Angst, ihn zu verärgern, ich schluckte die Scheibe fast in einem Stück herunter, ohne zu kauen, es schmeckte ranzig, ich glaube, etwas derart Schlechtes habe ich noch nie gegessen, und dabei gehe ich in die Schulmensa.
No und ich gingen zur Kneipe, unterwegs sagte ich zu ihr, ihre Kumpel seien nett, da blieb sie stehen und antwortete: Auf der Straße hat man keine Freunde. Abends, zu Hause, schrieb ich diesen Satz in mein Heft.
Wir verabreden uns von einem zum anderen Treffen, manchmal kommt sie, manchmal auch nicht. Ich denke den ganzen Tag daran und warte ungeduldig auf den Unterrichtsschluss, sobald es klingelt, renne ich zur Metro, immer in der Angst, sie nicht wiederzusehen, in der Angst, es könne ihr etwas zugestoßen sein.
Sie ist gerade achtzehn Jahre alt geworden, Ende August hat sie ein Heim für Notfälle verlassen, in dem sie bis zu ihrer Volljährigkeit mehrere Monate untergebracht war, sie lebt auf der Straße, aber das hört sie nicht gern, es gibt Wörter, die sie nicht mag, und ich gebe acht, denn wenn sie wütend wird, sagt sie gar nichts mehr, sie beißt sich auf die Lippe und starrt zu Boden. Sie mag die Erwachsenen nicht, sie traut ihnen nicht. Sie trinkt Bier, kaut auf ihren Nägeln, zieht einen Rollenkoffer hinter sich her, der ihr ganzes Leben enthält, sie raucht die Zigaretten, die man ihr schenkt, dreht sich welche selbst, wenn sie Geld für Tabak hat, und sie schließt die Augen, um sich der Welt zu entziehen. Sie schläft mal hier, mal da, bei einer Freundin, die sie im Heim kennengelernt hat und die an der Fleischtheke im Auchan-Supermarkt an der Porte de Bagnolet arbeitet, bei einem Eisenbahn-Kontrolleur, der sie von Zeit zu Zeit aufnimmt, sie nistet sich bei allen möglichen Zufallsbekanntschaften ein, sie kennt einen Jungen, der ein Ärzte-der-Welt-Zelt ergattern konnte und nun draußen campt, ein- oder zweimal hat er sie darin schlafen lassen, ohne Gegenleistungen zu verlangen, wenn du auf der Rue de Charenton bist, sagte sie mir, dann kannst du gegenüber der Haltestelle vom 29er-Bus sein Zelt sehen, das ist seine Gegend.
Wenn sie nicht weiß, wo sie schlafen soll, dann ruft sie den SAMU social an, um eine Notunterkunft zu finden, doch vor Einbruch des Winters ist das schwierig, weil die meisten noch geschlossen sind.
Im Relais
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