No & ich: Roman (German Edition)
an der letzten Ampel oder beim Abstellen des Motors sagen würde, es ist absurd, oder, es ist lächerlich, oder auch, es tut zu weh.
Wochenlang träumte ich, dass er eines Tages das Gaspedal bis aufs Bodenblech durchtreten und uns alle drei gegen die Wand des Parkhauses schleudern würde, für immer vereint.
Schließlich kehrte ich tatsächlich zurück, nach Paris, in mein Kinderzimmer, das nicht mehr zu mir passte, und bat meine Eltern, mich in einem ganz normalen Lycée für ganz normale Kinder anzumelden. Ich wollte, dass das Leben wieder so wäre wie früher, als alles einfach schien und eins aufs andere folgte und man gar nicht darüber nachdachte, ich wollte, dass wir genauso wären wie die anderen Familien, in denen die Eltern mehr als drei Wörter am Tag sagen und die Kinder sich nicht die ganze Zeit schlimme Fragen stellen. Manchmal denke ich mir, auch Thaïs gehörte zu den intellektuell Frühreifen, und deshalb hat sie die Brocken hingeworfen, als ihr klar wurde, welche Strafe es ist und dass dagegen nichts zu machen ist, dass es kein Heilmittel gibt, kein Gegengift. Ich möchte einfach nur wie die anderen sein, ich beneide sie um ihre Gewandtheit, um ihr Lachen, um ihre Abenteuer, ich bin sicher, sie besitzen etwas, das ich nicht habe, ich habe im Wörterbuch lange nach einem Wort gesucht, das die Leichtigkeit, die Unbekümmertheit, die Zuversicht und all das ausdrückt, ein Wort, das ich mir ins Heft kleben würde, in Großbuchstaben, wie eine Beschwörung.
Jetzt ist Herbst, und wir versuchen, unser Leben wiederaufzunehmen. Mein Vater hat einen neuen Job, er hat die Küche und das Wohnzimmer streichen lassen. Meiner Mutter geht es besser. Das jedenfalls sagt er immer am Telefon. Ja, ja, Anouk geht es besser. Viel besser. Sie erholt sich. Ganz langsam. Manchmal überkommt mich die Lust, ihm das Telefon aus der Hand zu reißen und ganz laut zu schreien: Nein, Anouk geht es nicht besser, Anouk ist so weit weg von uns, dass wir nicht mit ihr sprechen können, Anouk erkennt uns kaum, seit vier Jahren lebt sie in einer Parallelwelt ohne jeden Zugang, in einer Art vierten Dimension, und es ist ihr ziemlich wurscht, ob wir noch am Leben sind.
Wenn ich nach Hause komme, sitzt sie in ihrem Sessel im Wohnzimmer. Sie macht kein Licht an, von morgens bis abends sitzt sie da, das weiß ich, ohne sich wegzurühren, sie legt sich eine Decke über die Knie und wartet, dass die Zeit vorbeigeht. Wenn ich komme, steht sie auf und verrichtet, automatisch oder aus Gewohnheit, eine Abfolge von Bewegungen und Ortsveränderungen, sie nimmt die Kekse aus dem Schrank, stellt Gläser auf den Tisch, setzt sich neben mich, ohne etwas zu sagen, sammelt das Geschirr wieder ein, räumt die Reste weg und wischt den Tisch sauber. Die Fragen sind immer dieselben, hattest du einen schönen Tag, hast du viele Hausaufgaben heute, war dir nicht kalt in deiner Jacke, zerstreut hört sie sich die Antworten an, wir spielen ein Rollenspiel, sie ist die Mutter, und ich bin die Tochter, beide halten wir uns an unseren Text und an die Bühnenanweisungen.
Nie mehr berührt sie mich mit der Hand, nie mehr streicht sie mir übers Haar, streichelt sie mir die Wange, nie mehr umfasst sie meinen Hals oder meine Taille, nie mehr drückt sie mich an sich.
I ch zähle einen, zwei, drei, vier Tropfen und betrachte die ockerfarbene Wolke, die sich im Wasser auflöst, wie sich Farbe aus einem in ein Wasserglas gestellten Pinsel löst, sie verteilt sich langsam, tönt die Flüssigkeit und verschwindet. Ich leide schon seit langem an Insomnie, ein Wort, das endet wie Hysterie, Hypochondrie, Hypertonie, kurzum: ein Wort, das bedeutet, es ist etwas kaputtgegangen. Zum Abendessen schlucke ich Gelatinekapseln mit Pflanzenextrakten, und wenn das nicht reicht, gibt mir mein Vater Ritrovil, ein Medikament, das einen in ein schwarzes Loch befördert, in ein Loch, in dem man an gar nichts mehr denkt. Ich soll es möglichst selten nehmen, wegen der Gewöhnungsgefahr, aber heute Abend ist mir der Schlaf unerreichbar, ich versuche es schon seit Stunden, ich zähle alles, was sich nur zählen lässt, die Zähne der Schäfchen, die Haare des Sandmännchens und seine Sommersprossen und Muttermale, ich liege unter der Bettdecke wie eine aufgeladene Batterie, das Herz schlägt mir bis zum Hals, in meinem Kopf sind zu viele Wörter, die wild durcheinanderschießen und wie in einer Massenkarambolage zusammenkrachen, völlig verwirrte Sätze kämpfen um einen Platz an der
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