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No & ich: Roman (German Edition)

No & ich: Roman (German Edition)

Titel: No & ich: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Delphine de Vigan
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fällt.
    »Ich hätte gern noch ein Bier.«
    »Ja, gern, kein Problem (ich hab mich überwunden, jetzt nur keine Unterbrechung, nur den Faden nicht verlieren, es muss weitergehen), wenn du also einverstanden wärst, könnte ich dir einige Fragen stellen, damit könnte ich Aussagen illustrieren, wie eine Art Zeugenaussage, verstehst du?«
    »Ich verstehe sehr gut.«
    Noch ist das Spiel nicht gewonnen. Sie gibt dem Kellner ein Zeichen, er nickt von ferne.
    »Wärst du einverstanden?«
    Sie antwortet nicht.
    »Du könntest mir einfach nur sagen, wie das so ist, verstehst du, mit dem Essen, mit dem Schlafen, oder wenn dir das lieber ist, könntest du mir von anderen Leuten erzählen, die du kennst und die in der gleichen Lage sind.«
    Immer noch keine Antwort.
    »Dann könnte ich dich auch öfter treffen. Und wir könnten etwas zusammen trinken.«

    Der Kellner stellt das Bier auf den Tisch, er will gleich kassieren, mir ist schon aufgefallen, dass Kellner eine eigene Sprache sprechen, sie beenden ihre Schicht, also müssen sie gleich kassieren, auch wenn sie vielleicht zwei Stunden später immer noch da sind, so ist es in ganz Paris, ich halte ihm einen Fünf-Euro-Schein hin, No senkt den Kopf, ich nutze die Gelegenheit und betrachte sie genauer, wenn man sich den Schmutz auf ihrem Gesicht und an ihrem Hals wegdenkt und das ungewaschene Haar nicht beachtet, ist sie sehr hübsch. Wenn sie gewaschen, gut angezogen und gekämmt wäre, wenn sie weniger erschöpft wäre, wäre sie vielleicht sogar noch hübscher als Léa Germain.
    Sie hebt den Kopf.
    »Und was gibst du mir dafür?«

    Es ist spät, mein Vater macht sich wahrscheinlich schon Sorgen, ich nehme den kürzesten Weg nach Hause, und unterwegs gehe ich unser Gespräch immer wieder durch, das ist einfach, denn ich speichere alles, den leisesten Seufzer, ich weiß auch nicht wieso, ich kann es seit meiner frühesten Kindheit, die Wörter prägen sich in meinen Kopf ein wie auf einer Festplatte, sie werden mehrere Tage gespeichert, und ich lösche nach und nach alles, was wegmuss, damit der Speicher nicht überläuft. Das Abendessen ist fertig, der Tisch gedeckt. Meine Mutter liegt im Bett. Mein Vater stellt die Schüssel vor mich hin, er nimmt meinen Teller, um mir etwas aufzufüllen, gießt Wasser in die Gläser, ich sehe, dass er traurig ist, er bemüht sich, fröhlich zu wirken, doch seine Stimme klingt nicht echt. Wie so einiges andere kann ich auch das erkennen, den Ton der Stimmen, wenn sie eine Lüge verhüllen, und die Wörter, die das Gegenteil der Gefühle sagen, ich kann die Traurigkeit meines Vaters erkennen und auch die meiner Mutter, wie eine Unterströmung. Ich vertilge die Fischstäbchen und das Kartoffelpüree und versuche zu lächeln, um ihn zu beruhigen. Mein Vater ist sehr gut darin, ein Gespräch zu bestreiten und das Gefühl zu vermitteln, es geschehe etwas, wenn nichts geschieht. Er beherrscht die Kunst zu fragen und zu antworten, das Gespräch wieder in Gang zu bringen, abzuschweifen und immer weiter zu reden, allein, während Maman schweigt. Normalerweise versuche ich ihm zu helfen, gute Miene zu machen und teilzunehmen, ich hake nach, bitte um Beispiele, führe die Argumentation weiter, suche nach Widersprüchen, doch diesmal kann ich es nicht, ich denke an mein Referat, an Lucas, an No, alles vermischt sich zu einem einzigen Angstgefühl, er erzählt mir von seiner Arbeit und von einer Reise, die er bald machen muss, ich betrachte die Küchentapete, die an die Wand geklebten Bilder, die ich früher gemalt habe, und den großen Rahmen mit den Fotos von uns dreien, den Fotos von vorher.

    »Weißt du, Lou, wir werden einige Zeit warten müssen, bis wir unsere alte Maman wiederhaben. Lange Zeit. Aber du brauchst keine Angst zu haben. Wir schaffen es.«

    Im Bett denke ich an No, an ihre Jacke, deren Löcher ich gezählt habe. Es sind fünf: zwei Brandlöcher von Zigaretten und drei Risse.
    Im Bett denke ich an Lucas, und ich höre wieder diesen Satz:
    »Keine Sorge, Krümel, das klappt schon, da bin ich sicher.«

A ls ich klein war, habe ich stundenlang vor dem Spiegel gestanden und versucht, meine Ohren wieder anzudrücken. Ich fand mich hässlich, ich fragte mich, ob man so was reparieren könne, indem man zum Beispiel jeden Tag, sommers wie winters, eine Badehaube oder einen Fahrradhelm darüber zöge, meine Mutter hatte mir erzählt, als Baby hätte ich immer mit umgeknicktem Ohr auf der Seite geschlafen. Als ich klein war, wollte ich

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