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No & ich: Roman (German Edition)

No & ich: Roman (German Edition)

Titel: No & ich: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Delphine de Vigan
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Hilfe.
    »Na, mit deinen Obdachlosen hast du ja ins Schwarze getroffen! Marin wird dich nicht mehr aus den Klauen lassen, das ist die Sorte Thema, die ihn richtig antörnt.«
    Ich bin stumm. Ein Karpfen. Meine Neuronen müssen sich durch ein Hintertürchen verdrückt haben, mein Herz schlägt, als wäre ich gerade sechshundert Meter gelaufen, ich bringe keine Antwort zustande, nicht einmal ein Ja oder ein Nein, vermutlich biete ich einen erbärmlichen Anblick.
    »Keine Sorge, Krümel, das klappt schon, da bin ich sicher. Weißt du, ich hatte Marin auch schon letztes Jahr. Bei den Referaten ist er cool. Er freut sich, wenn mal jemand was anderes macht. Und außerdem ist deine Idee mit dem Interview echt gut. Kommst du?«
    Ich trotte neben ihm her. Er ist ein besonderer Junge. Das wusste ich gleich. Nicht nur wegen seines widerborstigen Aussehens, seiner Verächtlichkeit und des Macker-Gehabes. Wegen seines Lächelns. Es ist ein Kinderlächeln.

    Der Kunstlehrer verteilt die Arbeiten, die wir letzte Woche angefertigt haben, ich sehe aus dem Fenster, es kommt mir vor, als wären die Wolken im freien Fall, überall am Himmel sind weiße Schleppen, es riecht nach Schwefel, und wenn die Erde jetzt anfinge zu beben? Ich muss ein Referat halten.

    Stimmengeräusche holen mich ins Klassenzimmer zurück. Es ist nichts. Kein Unwetter, kein Orkan, keine dräuende Naturkatastrophe, Axelle und Léa schieben sich unter dem Tisch Zettelchen zu, und wenn man es recht bedenkt, riecht es vor allem nach den Pommes aus der Schulmensa.
    Ich werde also die Unterlagen studieren müssen, die Monsieur Marin mir gegeben hat. Und No dazu bringen, mir zu helfen.

E in grauer Tag, es regnet. Ich komme aus der Metro und renne in den Bahnhof, ich sehe sie schon von weitem, am Zeitungskiosk, sie steht aufrecht, sie bettelt nicht.
    Ich gehe auf sie zu, sie knurrt nur, als ich hallo sage, sie scheint sehr übler Laune zu sein. No willigt ein, mit mir irgendwo etwas trinken zu gehen, ich habe wohlweislich mein Portemonnaie geschwenkt, damit klar ist, dass ich zahle. In der Kneipe bemühe ich mich, nicht auf ihre Hände zu sehen, meine Füße wippen unter der Bank, ich sehe mich nach einem Gegenstand um, auf den ich meine Aufmerksamkeit richten könnte, und entscheide mich für die hartgekochten Eier auf der Theke, ich denke an das würfelförmige Ei, das meine Cousins und ich letzten Sommer fabriziert haben, sie hatten den Trick aus Pif Gadget. Man musste es kochen, pellen und noch heiß in eine Pappform stecken, die man nach dem Muster in der Zeitschrift gefaltet hatte, um es danach für vierundzwanzig Stunden in den Kühlschrank zu stellen. So ein würfelförmiges Ei hat schon was Seltsames, wie jeder Anblick, an den man nicht gewöhnt ist, ich stelle mir ähnliche Gegenstände vor, Teleskopgabeln, durchscheinende Früchte, einen abnehmbaren Brustkorb, doch No sitzt mir gegenüber, sie sieht mürrisch aus, jetzt ist nicht der rechte Augenblick für derlei Zerstreutheiten, ich muss zum Wesentlichen kommen, ein Sofortige-Rückkehr-zur-Wirklichkeit -Knopf wär mir jetzt eine echte Hilfe.
    »Ich wollte dich treffen, weil ich dich um was bitten wollte.« (Das ist die Einleitung, die ich mir zurechtgelegt habe.)
    »Ah ja?«
    »Ich muss ein Referat halten, in Wiso …«
    »Was ist das denn?«
    »… Wirtschafts- und Sozialkunde. Ein Fach, in dem wir uns mit allem Möglichen beschäftigen, zum Beispiel der Wirtschaftslage in Frankreich, mit der Börse, dem Wachstum, den sozialen Klassen, der Vierten Welt und so … Verstehst du?«
    »Hmhm.«
    »Gut, also ich habe einen Horror vor Referaten, ich meine, ich habe wirklich Schiss, und der Lehrer ist eher einer von der schlimmen Sorte. Die Sache ist die, ich habe erzählt, ich würde was über Obdachlose machen … zum Beispiel erklären, wie öh … (jetzt komme ich zum heiklen Kern, ich habe völlig vergessen, was ich sagen wollte, wie immer, wenn ich aufgeregt bin) … wie es kommt, dass Frauen, besonders junge Frauen, auf der Straße leben. Wie du.«
    »Ich hab dir doch gesagt, dass ich bei Kumpels schlafe.«
    »Ja, klar, ich weiß, das wollte ich ja sagen, Frauen ohne festen Wohnsitz eben …«
    »Hast du von mir erzählt?«
    »Nein … das heißt ja … nicht direkt von dir, ich habe deinen Namen nicht genannt, aber ich habe gesagt, ich würde ein Interview machen.«
    »Ein Interview?«
    Ihre Augen haben sich geweitet, sie streicht mechanisch die Strähne zurück, die ihr in die Augen

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