Noah & Echo - Liebe kennt keine Grenzen
Ich steckte zwei weitere Vierteldollar in den Tisch. »Sagst du mir dann, weshalb du deine sehen willst?«
Echo arrangierte wieder die Kugeln. »Du weißt sowieso schon das meiste. Diesmal machst du das Break.«
Da ich mich unbehaglich fühlte, stützte ich mich auf mein Queue. »Ich habe zwei kleine Brüder. Jacob ist acht, Tyler vier. Nach dem Tod unserer Eltern wurden wir getrennt. Ich will beweisen, dass sie ein beschissenes Zuhause haben, und nach dem Schulabschluss das Sorgerecht für sie bekommen. In dieser Akte steht, wo sie wohnen. Wenn ich diese Mistkerle erwische, wie sie meinen Brüdern was zuleide tun, dann kann ich die beiden da rausholen und unsere Familie wieder ganz machen.«
Mein Eröffnungsstoß war kraftvoller, als ich beabsichtigt hatte. Mir ging das Bild von Tylers verschwollenem Gesicht nicht aus dem Kopf. Meine Brüder sollten nicht Opfer werden wie Beth oder abgebrühte Zyniker wie ich. Der Spielball sprang mehrere Male auf und ab, bevor er den Pulk der Kugeln traf. »Volle. Jetzt deine Antwort.«
»Meine Mutter hat mich verletzt, und ich kann mich nicht daran erinnern.«
Sie sagte es ganz ruhig, aber ich wusste, dass sie genauso darauf brannte, ihre Akte zu sehen, wie ich. Ich hatte ihr meine Geschichte erzählt, jetzt wollte ich ihre hören. »Erzähl mir, was du weißt.«
Echo rollte das Queue zwischen ihren Fingern. »Dazu kenne ich dich nicht gut genug.«
Wie konnte ich sie nur dazu bringen, mir zu vertrauen? Ein Stück weit tat sie es ja. Aber noch nicht so, wie ich es wollte. Mein Ruf als Aufreißer eilte mir an der Schule voraus wie eine Cheerleader-Gruppe einer Blaskapelle. Und was, wenn sie mir tatsächlich vertraute? Shit. Was würde ich dann machen?
Ich lehnte mich an den Pooltisch. »Angenommen, wir bekommen eine einzige Chance, in diese Akten zu schauen. Ich hab dir die ganze Scheiße von mir nicht erzählt, weil ich auf Gruppentherapie stehe, sondern damit du weißt, wonach du suchen sollst: die Daten der Pflegeeltern meiner Brüder, Nachname, Adresse, Telefonnummer. Wenn ich derjenige bin, der einen Blick in deine Akte werfen kann – wonach soll ich Ausschau halten?«
Man hätte meinen können, sie verwandelte sich in einen Vampir: Ihr hübsches Gesicht war auf einmal völlig blutleer. »Schwöre, dass du es niemandem erzählst.«
Was könnte schlimmer sein, als dass man einem nachsagt, sich zu ritzen? »Egal, was es ist …«
»Schwöre es«, zischte sie. Wie sie den Kopf neigte, wie ihre tiefgrünen Augen funkelten und sich verengten wie bei einem wilden Tier – das alles sagte mir, dass ein Witz jetzt vermutlich nicht der klügste Schachzug wäre.
»Ich schwör’s.«
Echo stellte ihr Queue an die Wand und kam zum Tisch zurück. So, wie es aussah, war das Spiel für heute Abend vorbei. Sie nahm die Spielkugel in die Hand. »Meine Mutter ist bipolar. Manisch-depressiv, weißt du? Es gibt zwei Arten von bipolar, und meine Mutter ist Nummer eins. Und mit eins meine ich hier nicht die unterste Kategorie wie bei der Hurrikanwarnung oder auf der Erdbebenskala. Es wurde jahrelang nicht diagnostiziert, und als ich sechs war …«
Echo ließ die Spielkugel über den Tisch rollen, bis sie gegen andere Kugeln stieß. »… hatte sie einen totalen Zusammenbruch und musste Hilfe in Anspruch nehmen. Solange sie ihre Medikamente nahm, war meine Mutter großartig.«
Sie umarmte sich selbst und starrte auf die Tischplatte. Ihr Fuß wippte. »Ich weiß nur das bisschen, was mir mein Vater und meine Freundinnen erzählt haben. Sie hat ihre Medikamente abgesetzt, eine manische Phase bekommen, ich hab sie in ihrer Wohnung besucht, und sie hat versucht, mich umzubringen.«
Ich wagte nicht, irgendeinen Mucks zu machen. Im Fernsehen wurden Teenager immer als fröhlich und sorglos dargestellt. Echo und ich kannten diesen Zustand nicht. Meine Eltern waren gestorben, und ich wurde von einem System misshandelt, das mich eigentlich hätte beschützen sollen. Echo … Echo wurde von dem einen Menschen verraten, der sein Leben dafür geben sollte, sie zu beschützen.
Ihre Hand war wie eine Klaue, als sie sich an die Stirn griff. »Kannst du dir vorstellen, wie das ist, sich an nichts erinnern zu können? Meine Mutter hat mich geliebt. Sie würde mir niemals wehtun. Kannst du dir vorstellen, wie es ist, jede Nacht mit Albträumen aufzuwachen? An einem Tag ist mein Leben noch in Ordnung, und zwei Tage später wache ich im Krankenhaus auf, und meine ganze Welt liegt in Trümmern.
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