Noah: Thriller (German Edition)
noch einmal an der anderen Brust, die Noel jedoch verschmähte.
Sie gab dem schreienden Baby einen Kuss, streichelte den aufgeblähten Bauch, dann wickelte sie Noel wieder in die Plastiktüte und folgte Marlon und Jay.
Die einspurige Straße hinter dem ausgetrockneten, unbestellten Ackerland war nahezu ausgestorben. Keine maschinengewehrbestückten Armeejeeps auf Patrouille, wie Marlon gewarnt hatte. Allerdings gab es auch keine Tagelöhner, die wie sonst zu dieser Uhrzeit am Straßenrand auf Arbeit warteten. Dieser Abschnitt war der sogenannte Handwerkerstrich von Quezon City. Hausmeister und Gärtner suchten hier im Auftrag ihrer reichen Arbeitgeber nach Hilfskräften, die gegen ein paar Pesos und ein Mittagessen dabei halfen, den neuen Pool zu bauen oder den Stacheldraht auf den hohen Mauern zu erneuern, mit denen die Wohlhabenden ihre Grundstücke sicherten, die teilweise bis direkt an die Elendsquartiere reichten.
Wir sind alleine. Völlig verloren. Alicia beschlich eine dunkle Vorahnung.
Nur eine einzige schwarze Limousine fuhr an ihnen vorbei. Gesteuert von einem finster blickenden Mann mit Chauffeursmütze. Auf der Rückbank saß ein kleines Mädchen mit Schleife im Haar und sah einen Zeichentrickfilm auf dem Fernseher in der Kopfstütze vor ihr.
»Sag mir nicht, dass wir umsonst durch die Scheiße gekrochen sind«, sagte Jay. »Das sieht mir hier nicht nach Straßensperren aus.«
»Wart’s ab«, antwortete Marlon, und er sollte recht behalten.
Die Szenerie änderte sich schlagartig, nachdem sie ein Stück in nördliche Richtung gegangen waren und an einer geschlossenen Tankstelle um die Ecke bogen.
»Oh verdammt«, fluchte Jay.
In etwa hundert Metern Entfernung war die Hauptzufahrt nach Lupang Pangako mit Einsatzfahrzeugen und Panzern abgesperrt. Soldaten führten Hunde auf dem Grenzweg zwischen Slum und Müllkippe an der Leine. Noch waren sie außer Hörweite, aber Alicia legte dennoch ängstlich die Hand vor den Mund ihres mittlerweile nur noch wimmernden Babys.
»Schnell! Da lang!«, befahl Marlon und wies ihnen den Weg hinter die Tankstelle zu einem kleinen Trampelpfad, der zu einem Containerfriedhof führte; eine Außenstelle der Deponie. Ausrangierte Schiffs- und Eisenbahncontainer türmten sich auf wackeligen Stapeln meterhoch in den Himmel und warteten darauf, von Kinderhänden auseinandergeschweißt zu werden.
»Wo führst du uns hin?«, wollte Alicia wissen.
»Zu den Ärzten«, antwortete Marlon. »Vertraut mir. Ich kenne den Weg.«
10. Kapitel
Rom, Italien
»Zu spät! Ihr kommt zu spät!«
Die Flügeltüren zum Eingang der verlassen wirkenden Neo Clinica standen weit offen und erinnerten Noah an einen dunklen, zahnlosen Mund, der sie bereits von weitem zu verspotten schien: »Oscar ist umsonst gestorben. Hier ist längst keiner mehr.«
Das Krankenhaus, zu dem die Navigationsfunktion in Altmanns Mobiltelefon sie geführt hatte, wirkte von innen genauso ungemütlich wie von außen. Nicht ein Licht brannte in dem schlichten Flachdachgebäude, weder hinter den quadratischen Zimmerfenstern noch hier unten beim unbesetzten Empfang. Es roch nach feuchter Tapete und altem Leder; Noah meinte auf seiner Zunge dichten Staub zu schmecken, seitdem sie das Gebäude betreten hatten.
Seine Muskeln brannten, er konnte die Arme nicht mehr bewegen, nachdem er Oscar den ganzen Weg vom Unglücksort bis zur Klinik getragen hatte, ohne ihn auch nur einmal abzusetzen. Vergeblich hatte Altmann ihn davon zu überzeugen versucht, seinen Gefährten an Ort und Stelle liegen zu lassen.
Noah hätte es niemals übers Herz gebracht, Oscar wie unnützen Ballast zurückzulassen, nicht einmal, als er spürte, wie die Leiche sich entleerte. Er hatte den Geruch, die Nässe und das scheinbar mit jedem Schritt wachsende Gewicht ignoriert, und jetzt, eine halbe Stunde später, kniete er schwer atmend und völlig erschöpft vor dem reglosen Körper, den er quer über die Schalensitzaussparungen einer Besucherbank gelegt hatte.
Über seinem Kopf knackte es, und mit diesem Geräusch erwachten die meisten der in die Decke eingelassenen Neonröhren. Noah stand auf und drehte sich zu Altmann, der offensichtlich einen Lichtschalter gefunden hatte.
»Strom! Wer hätte das gedacht«, rief er von weiter vorne, wo sich die Fahrstühle befanden. Wie meist in letzter Zeit mündeten seine knappen Worte in einen längeren Hustenanfall.
Celine verschwunden. Oscar tot. Altmann kurz davor.
Die traurige Bilanz einer
Weitere Kostenlose Bücher