Noah: Thriller (German Edition)
zerspringen. Doch schlimmer als all dies war die Qual, ihr eigenes Kind in diesem erbarmungswürdigen Zustand zu sehen.
»Helfen Sie meinem Baby«, flehte sie und verscheuchte mehrere Fliegen, die über Noels ausgezehrtem Gesicht kreisten.
Heinz vergewisserte sich noch einmal, dass ihnen niemand gefolgt war, dann seufzte er und nickte.
Marlon kletterte als Erster ins Innere, dann half er Alicia beim Einstieg. Als auch Jay folgen wollte, schüttelte der Arzt abwehrend den Kopf. »Er soll Wache halten«, sagte er zu Marlon, als hätte dieser die Befehlsgewalt über Alicias Sohn. Dabei machte er ein gequältes Gesicht und hielt sich wegen des Kloakengestanks aus der Grube, der ihren Körpern noch immer anhaftete, die Nase zu.
Alicia protestierte nicht. Sie ahnte, was der Mann von ihr verlangen würde, und den Anblick würde sie Jay gerne ersparen. Am liebsten wäre ihr gewesen, auch Marlon würde draußen sein, wenn sie zu tun hatte, was immer nötig war, um Noels Leben zu retten.
»Dann mal rein in die gute Stube«, sagte Heinz und ging voran.
Der Frachtraum war klimatisiert, dank des Dieselmotors gab es auch etwas Licht. Offenbar wurde der Lkw als Lager für Medikamente, Lebensmittel und andere Hilfsgüter genutzt. In der hintersten Ecke, unmittelbar vor der Fahrerkabine, hatte der Arzt eine Schlafstätte eingerichtet. Zwischen mehreren Zuckersäcken lag eine dünne Matratze auf leeren Holzpaletten. Laken und Kopfkissen lagen zusammengeknüllt am Fußende.
»Ihr habt Glück, dass ich da bin. Meine Pause ist in zehn Minuten um. Heute ist die Hölle los«, erklärte Heinz und lächelte freundlich. Er streckte die Hand aus. Alicia sah fragend zu Marlon.
»Gib ihm das Baby«, sagte er.
Zögernd reichte Alicia dem Mann das Bündel. Heinz kniete sich hin und löste Noel auf der Matratze behutsam aus dem Plastiktütenwickel. Der Bauch des Säuglings war handballgroß, die dünnen Rippen drohten die Haut der Brust von innen zu zerreißen. Sein Popo war kotverkrustet, weil Alicia kein sauberes Wasser gefunden hatte, um ihn zu baden.
»Ich kann dir helfen«, sagte Heinz. »Aber …«
Alicia sah seinen fordernden Blick, und die Kehle schnürte sich ihr zu. »Nicht, wenn du dabei bist«, bat sie Marlon.
Heinz sah erstaunt auf.
»Nein, nein, nein.« Er hob abwehrend beide Hände. »Wofür hältst du mich?« Er sah zu Marlon. »Hast du ihr nicht gesagt, wie das läuft?«
Er griff nach Alicias Hand. Wie betäubt ließ sie es gewähren.
Wie was läuft?
»Ich kann deinem Baby helfen. Wir haben hier alles, wie du siehst. Der Kleine … wie heißt er?«
»Noel«, presste sie hervor.
»Gut. Noel bekommt sofort eine Infusion. Er ist dehydriert, unterernährt. Ihm fehlen Vitamine und Folsäure. Außerdem sind seine Augen verfärbt, wahrscheinlich Gelbsucht. Es ist kritisch, aber noch nicht zu spät. Natürlich nur, wenn du dich nicht mit der Horde vor dem Zelt anstellst. Da sind die Betten belegt wie in einem Gratisbordell.« Er lachte. »Alle, die da draußen warten, werden heute wieder nach Hause geschickt.«
Niemand von denen hat ein Zuhause , dachte Alicia.
Heinz lächelte. Behutsam nahm er das kleine Fäustchen des Babys in die Hand und streichelte es. Alicia konnte nichts Falsches an dieser liebevollen Geste erkennen, und für einen kurzen Moment schöpfte sie Hoffnung.
»Aber?«, fragte Alicia nach dem Preis, den sie zu zahlen hatte. Was konnte er schon Schlimmes fordern, wenn es nicht um Sex ging.
Mit dieser grauenhaften Antwort hatte sie nicht gerechnet.
»Aber du wirst dein Baby nie wiedersehen!«
Die Worte schnitten ihr mitten ins Herz.
»Was?« Sie sah fragend zu Marlon. Hoffte, sich verhört zu haben.
Heinz lächelte immer noch. »Hab keine Sorge. Er kommt zu guten Eltern nach Deutschland.«
»Ich soll Noel weggeben?«
Hast du das gewusst? , fragte ihr stummer Blick, mit dem sie Marlon aufspießte. Der Junge zuckte schuldbewusst die Achseln.
»Du Mistkerl«, stieß sie hervor. »Wie oft schon?« Sie gab ihm eine schallende Ohrfeige. »Wie viele Frauen hast du schon hierhergelockt?«
In die Kammer des Teufels?
»Hey, immer mit der Ruhe«, sagte Heinz, hinderte Alicia aber nicht daran, ihr Kind wieder an sich zu nehmen.
»Überleg es dir gut. Was für ein Leben willst du Noel denn bieten? Du hast keinen Mann, keine Arbeit. Kein Geld. Dein kleiner Sohn muss im Müll nach Essen suchen.«
Er fixierte sie aus den hellblauen Augen, die so unangemessen freundlich waren.
»Selbst wenn wir Noel heute
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