Noah: Thriller (German Edition)
aufpäppeln, hat er keine Chance. Er wird sterben. Wenn nicht heute, dann morgen, nächste Woche, nächstes Jahr. Hunger, Krankheit, Drogen, ein Wirbelsturm, der eure Hütte zerfetzt, ein Polizist, der ihn abknallt, einfach, weil es ihm Spaß macht. Such dir was aus.«
Er streckte die Arme aus.
»Gib mir dein Baby, und ich werde mich auch um dich kümmern. Ich kann dir einen Job als Näherin in einer Fabrik besorgen. Dort wohnst du in einem richtigen Haus, noch auf dem Firmengelände. Es gibt einen Dollar pro Tag.«
»Niemals«, sagte sie und spuckte vor Heinz auf den Boden. Sie zitterte vor Wut und Enttäuschung am ganzen Körper. Ihr Entsetzen übertrug sich auf den Säugling. Noel begann zu quengeln.
»Ich tausche mein Baby nicht gegen einen Job.«
»Da, wo ich lebe, gibt es viele gute Familien, die einem Adoptivkind die Welt zu Füßen legen können«, sagte Heinz.
Auch Marlon schaltete sich ein. »Er wird in einem Haus aufwachsen. Mit fließendem Wasser. Er wird zur Schule gehen!«
»Fass mich nicht an!«, schrie sie, als er ihr die Hand auf die Schulter legen wollte. Sie presste Noel noch fester an sich.
Ohne die beiden aus den Augen zu lassen, tastete sie sich rückwärts an den Paketstapel zum Ausgang zurück. Erst kurz vor der Tür drehte sie sich um und stieß sie auf.
»Geh nur«, hörte sie Heinz hinter sich herrufen, »aber dann ist Noel verloren.«
Sie stand auf der Schwelle zum Ausstieg. Tränen schossen ihr in die Augen.
Niemals, dachte sie nur. Niemals gebe ich dich her, mein Liebling.
»Er hat noch sechs Stunden, eher weniger.«
Nein. Auf keinen Fall.
»Ich kann ihm ein besseres Leben verschaffen«, bohrte sich die Stimme des Teufels in ihren Rücken. »Soll er in deinen Armen sterben? Oder weiterleben?«
Weinend bedeckte Alicia sein kleines Köpfchen mit Küssen. Augen, so schwarz wie Klavierlack, sahen zu ihr hoch.
»Du bleibst bei mir, mein Schatz«, flüsterte sie ihm zu.
Die Augen seines ermordeten Vaters.
Alicia versuchte, aus dem Frachtraum zu klettern.
Aber die Beine gehorchten ihr nicht mehr.
20. Kapitel
Rom, Italien
Eine Viertelstunde hatte Noah damit zugebracht, sein Gefängnis zu inspizieren. Neben den angekündigten Lebensmitteln hatte er in den Schränken und Regalen eine Auswahl von Trainingsanzügen und Sportschuhen vorgefunden. Noah entschied sich für eine Sporthose aus Ballonseide, ein graues Sweatshirt und etwas zu klein geratene Tennisschuhe.
Dem Chefarztbüro war ein kleines, schlichtes Bad mit Dusche angeschlossen, deren Wanne mit Kartons gefüllt war. Darin fanden sich jede Menge Hygieneartikel und Medikamente. Es gab Handtücher, Toilettenpapier, Fertiggerichte, sogar Taschenlampen mit Batterien, jedoch keine spitzen Gegenstände, kein Besteck, keinen Wasserkocher, keine Mikrowelle. Nichts, was sich mit etwas Geschick zu einer Waffe umfunktionieren ließe. Weder eine Rasierklinge noch Feuerzeug, nicht einmal eine Nagelschere.
Dafür entdeckte Noah eine Packung mit Morphinpflastern. Er trug Altmann auf das Sofa, öffnete ihm das Hemd und klebte ihm ein Pflaster gegen die Schmerzen auf die Brust.
»Kleb mir damit lieber die Nase zu«, scherzte der Agent, der dabei wieder zur Besinnung gekommen war.
Der Begriff »lebendige Leiche« war für seinen Anblick noch ein Euphemismus. Der Kragen des Bademantels war von Blut und Speichel verkrustet, er stank nach Urin, und die Einblutungen in den Augenbindehäuten wertete Noah als äußerlich sichtbare Anzeichen, dass er innerlich verblutete.
Noah durchsuchte Altmanns Taschen, und tatsächlich hatte Cezet ihm zwar die Waffen abgenommen, ihm das kugelschreiberförmige »Spielzeug« aber gelassen. Er nahm den HPX5 an sich und steckte ihn in die Brusttasche seines Sweatshirts, auch wenn er nicht wusste, wie ihm ein Thermometer, ein Geigerzähler oder eine Videokamera jetzt weiterhelfen sollte.
»Was für ein Kuddelmuddel«, stöhnte Altmann. »Wie es aussieht, hast du von uns beiden das längere Streichholz gezogen. Glückwunsch.«
Noah sagte nichts. Dabei entsprach seine äußere Ruhe nicht seiner inneren Gefühlslage. Die Wahrheit, die er über sich erfahren hatte, das Ausmaß des Schreckens, mit dem er konfrontiert worden war, hätte ihn eigentlich lähmen müssen. Stattdessen fühlte er sich wie ein Tiger im Käfig. Müde, aber voller Tatendrang.
»Ich muss hier raus«, sagte er.
»Weshalb? Du bist geimpft. Hier bist du in Sicherheit und kannst in Ruhe abwarten, bis die Welt vor die Hunde gegangen
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