Noah: Thriller (German Edition)
gibt es Zeltlager von Obdachlosen, die mich an Dadaab erinnern, allein in den USA leben dreieinhalb Millionen Obdachlose. Und wir, die das Geld haben, schauen weg.«
Er zog ein Gesicht, als wollte er ausspucken.
»Wir wickeln uns eine Tonne Stahl um den Körper, um damit achtzig Kilogramm Körpermasse in den nächsten Stau zu fahren. Wir vergeuden einen Liter Wasser, um nur eine einzige Kalorie an Nahrung herzustellen. Gleichzeitig pumpen wir heute schon doppelt so viele Treibhausgase in die Luft, wie unsere Erde vertragen kann. Auf dem Pazifik treibt ein Müllteppich von der Größe Zentraleuropas, und der wird sicher nicht kleiner, jetzt, wo Noah gescheitert ist. Schlag die Zeitung auf. Schalt den Fernseher an. Dürren, Überschwemmungen, Wirbelstürme – kein Tag vergeht ohne eine neue Hiobsmeldung, doch die Beschlüsse auf den Klimakonferenzen taugen nicht mal zum Arschabwischen. Ganz zu schweigen von dem Terror, der über uns immer stärker hereinbricht. Kriege brechen dort am häufigsten aus, wo junge Männer vor Elend nichts mehr zu verlieren haben. Und von denen züchten wir gerade Legionen heran.«
»Also willst du die Armen töten, damit die Reichen so weiterleben können wie bisher?«
Zaphire schüttelte verärgert den Kopf. »Wir wollten die Bevölkerung auf ein verträgliches Maß reduzieren. Die Frage war nie, wer sterben muss. Sondern immer nur, wie viele , damit die Erde überleben kann. Room 17 hat nicht zwischen Arm und Reich unterschieden. Das machst du, indem du das Projekt Noah gestoppt und den Lauf des Elends fortgesetzt hast.«
Das Schiff begann unvermittelt heftig zu stampfen, und Noah rutschte bei dem Versuch, sich an dem Haltegriff des Bettes abzustützen, ab. Unbeabsichtigt berührte er dabei den Unterarm seines Vaters. Zaphire nutzte die Gelegenheit, um nach der Hand seines Sohnes zu greifen.
»Ist dir nicht klar, dass der Mensch sich nur durch Gewalt verändert? Wir sind Egoisten, John. Immer nur auf unseren eigenen Vorteil bedacht. Ansonsten könnten wir die Welt so, wie wir sie uns geschaffen haben, nicht eine Sekunde ertragen.«
Zaphire gab Noahs Hand wieder frei, der wie so oft an Oscar denken musste, der diese Wahrheit zu einem Zeitpunkt ausgesprochen hatte, als er ihn noch als Spinner verlachte.
»Eine Welt, in der in diesem Augenblick Tausende von Frauen in Sklavenfabriken ohne Tageslicht irgendwo in Asien unsere Smartphones zusammenschrauben. Aber wir demonstrieren nicht für bessere Arbeitsbedingungen, sondern stehen nächtelang vor den Geschäften Schlange, um das neueste Modell zu kaufen, obwohl das alte noch vollkommen funktionstüchtig ist. Das wandert achtlos in den Müll, ungeachtet der Tatsache, dass für das Coltan, das in jedem Handy steckt, im Kongo Tausende von Menschen in einem blutigen Krieg abgeschlachtet werden; im Kampf um die Abbaurechte für diesen wertvollen Rohstoff, der von Kindersklaven unter Lebensgefahr aus dunklen Urwaldschächten gegraben werden muss.«
Zaphire verzog erneut das Gesicht vor Schmerzen, sprach aber weiter: »Wusstest du, dass Arbeiter in China Lungenkrebs bekommen, weil sie achtzehn Stunden am Tag ohne Mundschutz Farbpartikel einatmen müssen, die sie mit Schleifmaschinen von Jeanshosen runterhobeln; damit sie gebraucht aussehen!«
Wider Willen war Noah von Zaphires Rede berührt.
Wie jedem begnadeten Demagogen gelang es auch seinem Vater, mehrere Wahrheiten zu einer glaubhaften Lüge zu verbinden. Selbst schwerkrank und ans Bett gefesselt, versprühte der alte Mann immer noch so viel Charisma, dass Noah sich sehr gut vorstellen konnte, wie er David von der Notwendigkeit seines fanatischen Plans hatte überzeugen können.
»Diese Tragödien ließen sich unendlich weiter aufzählen«, sagte er. »Projekt Noah hätte sie alle beendet. Du jedoch hast dafür gesorgt, dass das Elend fortdauert. Und du hast nichts erreicht. Die Welt, die du retten wolltest, geht trotzdem an sich selbst zugrunde. Es wird nur etwas länger dauern.«
Zaphire tastete nach seiner Nase. Blut tropfte auf seine Fingerkuppen. Er tat so, als kümmerte es ihn nicht.
»Der Mensch ist wie ein Parasit, der den Wirt so lange aussaugt, bis er gemeinsam mit ihm stirbt. Er sorgt ganz alleine für seinen Untergang. Mit Projekt Noah hätten die Überlebenden wenigstens die Chance für einen Neuanfang gehabt.«
»Nein, du irrst dich.«
Sein Vater seufzte tief. »Gut. Dann klär mich auf. Wie soll sich etwas ändern in einer Welt, in der alles nur nach Wachstum,
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