Noah: Thriller (German Edition)
Nie.«
Die Unterhaltung belebte ihn sichtlich. Seine Wangen waren vor Aufregung gerötet. Eine Ader pochte an seiner Schläfe. »Im Gegensatz zu dir habe ich das Elend mit eigenen Augen gesehen. Ich war in den Slums, in den Favelas, auf den Müllkippen. Ein Drittel aller Menschen hat nicht das Geld, sich richtig zu ernähren. Dreißigjährige Inder laufen kraftlos wie Zombies durch den Abfall, fünfundzwanzigjährigen Äthiopierinnen fallen die Zähne aus, sie bekommen weder Folsäure noch Vitamine in der Schwangerschaft, weswegen ihre Kinder blind, verkrüppelt oder schwachsinnig, im besten Falle mit niedriger Intelligenz zur Welt kommen. Wir reden hier über Hunderte von Millionen, die intellektuell niemals in der Lage sein werden, das System, das sie ausbeutet, zu ändern.«
Er musste husten, danach fuhr er fort. »Wir kennen die Fakten. Jeder Schwachkopf kann sie googeln. Doch wir schauen weg. Wir tun nichts dagegen. Und wieso?«
CLEAR, schoss es Noah durch den Kopf, und Trauer erfasste ihn, als er an Oscar und seine Verschwörungstheorien denken musste.
»Weil wir es nicht wollen«, bellte Zaphire. »Weil wir davon profitieren. Ich habe immer wieder versucht, die Menschen wachzurütteln. Auf einem Galadinner in Seattle habe ich ein Video von geistig behinderten Kindern gezeigt, die in ukrainischen Heimen festgebunden werden, bis sie verhungert sind. An diesem Abend tranken meine Zuhörer Weine für zwanzigtausend Dollar. Bei meinem letzten Auftritt zeigte ich Bilder von einem Kind, das in einer Nussschale auf dem offenen Meer vor Malta trieb. Wenig später wurde es von einem Frontex-Aufklärungsschiff gerammt. Bevor der Junge verdursten konnte, wurde er ertränkt. Im Auftrag der EU, die verhindern will, dass das Elend über die Meere schwappt. Mit diesen Wahrheiten schockierte ich die Gäste. Ich brüllte sie an. Ich beleidigte sie. Manchmal öffnete ich dadurch ihr Scheckbuch. Doch was habe ich dadurch geändert? Gar nichts!«
Noah schüttelte den Kopf. »Es muss einen anderen Weg geben. Niemand hat das Recht, über wertes und unwertes Leben zu entscheiden.«
»Aber genau das tust du doch«, krächzte Zaphire. »Jeden Tag.«
»Ich?«
Sein Vater hob die Hand und zeigte mit spitzen Fingern auf Noahs Oberkörper. Er hatte den Reißverschluss seiner Jacke aufgemacht, weil es hier auf der Station noch wärmer war als unten in der Kabine.
»Das T-Shirt, das du da trägst. Es wurde in Bangladesch von Frauen geschneidert, die nicht einmal einen Cent pro Hemd bekommen, damit du es im Supermarkt für weniger als fünf Dollar kaufen kannst. Alle Umweltschäden durch den Transport und einen fairen Lohn eingerechnet, müsste es mindestens das Zehnfache kosten. Aber das will keiner zahlen. Und wieso nicht? Weil es Verzicht bedeuten würde.«
»Ist das deine Devise? Zurück ins Mittelalter?«
»Wir sind längst auf dem Weg dorthin.«
Zaphire griff nach einer Flasche Wasser, die auf einem Schwenknachttisch stand. Während er mit Mühe den Schraubverschluss öffnete, dozierte er weiter: »Unser Planet ist nicht dafür geschaffen, dass wir alle Auto fahren. Alle täglich Fleisch essen. Jedes Jahr in den Urlaub fliegen, täglich duschen, alle fernsehen. Dass jeder einen Kühlschrank besitzt, der ständig Strom verbraucht, und Wohnungen, in denen permanent die Klimaanlage oder die Heizung läuft. Das geht nicht. Dafür reichen unsere Rohstoffe nicht. Nicht für sieben Milliarden Menschen. Und erst recht nicht für acht oder zehn. Wir alle wissen das. Aber niemand von uns will freiwillig seinen Lebensstil ändern. Eher führen wir Krieg zur Sicherung unseres Wohlstands. Eher lassen wir die Armen verrecken.«
Er nahm seinen ersten Schluck aus der Flasche, und Noah nutzte die Gelegenheit, um ihm zu widersprechen.
»Du biegst dir die Zahlen zurecht. Die Schwellenländer werden reicher, und mit wachsendem Reichtum sinkt die Geburtenrate.«
»Was nichts anderes heißt, als dass auch in Zukunft immer weniger Reiche auf Kosten immer mehr armer Menschen existieren. Würden wir alle so leben wie die Indianervölker Brasiliens, könnte unsere Erde zwölf Milliarden Menschen und mehr aushalten. Doch wenn alle den Lebensstil von uns Amerikanern oder Deutschen adaptieren, bräuchten wir schon heute vier Planeten. Alles ist …«
Zaphire kniff mitten im Satz die Augen zusammen. Er schien plötzlich starke Kopfschmerzen zu haben.
»Alles ist völlig aus dem Ruder gelaufen. Und das nicht nur in den Entwicklungsländern. Vor Paris
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