Noah: Thriller (German Edition)
aussah.
Ist die kritische Masse erst einmal in Bewegung, ist die Kettenreaktion nicht mehr zu stoppen, meldete sich die altersweise Stimme wieder in seinem Kopf.
Noah sah der Demonstrantin hinterher, die sich mittlerweile wieder mit den anderen Demonstranten exakt in die Richtung bewegte, in der sich laut den Hinweisschildern über ihren Köpfen auch der mit der Erpresserin vereinbarte Treffpunkt befand: die Toiletten am Kopfende der Halle.
Er war unschlüssig, ob das Chaos ihm nutzte oder eher schadete. Noah hatte geplant, sich in die Höhle des Löwen zu begeben, um die Chance zu nutzen, von der Erpresserin etwas über seine Vergangenheit und damit über seine wahre Identität zu erfahren, und jetzt bot ihm die unübersichtliche Lage eine gute Gelegenheit, sich dem Einsatzort möglichst unbemerkt zu nähern. Andererseits konnte er das Gelände nicht auskundschaften, um sich in Ruhe einen Überblick zu verschaffen und eine mögliche Exit-Strategie zurechtzulegen.
»Was ist der Plan?«, fragte Oscar, der gespürt haben musste, welche Gedanken Noah umtrieben.
»Flucht nach vorn«, wollte er gerade antworten, doch ein ungewöhnlich lauter Signalton aus den Lautsprechern unter der Hallendecke schnitt ihm das Wort ab. Die meisten in der Menge hielten nicht einmal für einen Moment inne. Und selbst die, die kurz aufgemerkt hatten, verloren rasch das Interesse, als sie merkten, dass die englische Durchsage nicht für sie bestimmt war:
»Die Mutter des kleinen Noah aus Berlin wird gebeten, ihr Mobiltelefon anzuschalten. Ich wiederhole …«
Oscar und Noah sahen sich an. Langsam, als wollte er einem Gegner seine Waffe übergeben, zog Noah das Satellitentelefon aus seiner Jackentasche hervor.
Kaum hatte er es aktiviert, begann es auch schon zu klingeln.
»Na endlich«, sagte eine Frau. Unverkennbar die Stimme, die mit dem Tode der Journalistin Celine Henderson gedroht hatte, sollte er sich nicht stellen.
»Wo stecken Sie?«, fragte Noah.
»Direkt hinter Ihnen«, antwortete die Stimme – nicht mehr über das Telefon.
7. Kapitel
In dem Gedränge nahm niemand von dem merkwürdigen Gespann Notiz, das sich spannungsgeladen gegenüberstand. Dicht an dicht, wie vor dem Bartresen einer hoffnungslos überfüllten Diskothek.
Sie waren zu viert. Oscar, Noah, die Erpresserin und ein bewaffneter Helfer mit gezogener Pistole; ein etwa fünfundzwanzig Jahre alter hochgewachsener Mann, der Noah an den jungen Elvis Presley erinnerte: dunkle Haare, braune Augen, breite Koteletten und eine komplett bartlose, feminine Gesichtshaut. Nicht die Visage, die man mit der Sorte Killer assoziierte, die jeden falschen Schritt mit einem Schuss in die Wirbelsäule bestrafte.
Aber hat Ted Bundy nicht auch wie ein Showmaster ausgesehen?
Die Menschen, die an ihnen vorbeiströmten, waren mit sich selbst beschäftigt. Alle starrten stur geradeaus oder nach oben zur Anzeigetafel. Wenn doch jemand in ihre Richtung sah, bemerkte er ein eng umschlungenes Liebespaar. Eine außergewöhnlich attraktive Frau, die ihre Hände nicht von dem muskulösen Körperbau ihres hochgewachsenen Liebhabers lassen konnte – zumindest nicht so lange, bis sie Noah entwaffnet hatte.
»Lassen Sie den Koffer einfach stehen«, befahl die Frau, nachdem sie ihm Pistole, Handy, Bargeld und Pässe abgenommen und ihrem Begleiter weitergereicht hatte. Oscar war ebenfalls abgetastet worden, wenn auch deutlich flüchtiger.
»Wohin?«, fragte Noah und musterte seine Gegenspielerin. Ihre hüftlange Daunenjacke, deren silberne Polyesteroberfläche wie Bonbonpapier glänzte, war das einzig winterliche Kleidungsstück an ihr. Ansonsten war sie mit ihren hochhackigen Schuhen komplett unpassend gekleidet, sowohl für die Jahreszeit als auch für eine Entführung. Ihr eng anliegender Bleistiftrock war zerknittert wie nach einer langen Reise. Wenn sie müde war, hatte sie die sichtbaren Anzeichen perfekt weggeschminkt.
»Das werden Sie schon sehen.«
Noah sah, wie Elvis seine Waffe nun auf Oscar ausrichtete und ihm unmissverständlich signalisierte, in Richtung Ausgang zu gehen, doch Noah hielt seinen Begleiter davon ab, sich in Bewegung zu setzen.
»Wo ist Celine?«, fragte er.
Die Frau lachte auf. Kaugummiatem wehte Noah ins Gesicht. Sie standen sich so nah, als wollten sie einander küssen.
»Sie sorgen sich um jemanden, den Sie gar nicht persönlich kennen?«
»Nein.«
Es ging ihm nicht um Celine. Vorhin, während des Telefonats, hatte er nicht nur aus einer
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