Noahs Kuss - - ...Und plötzlich ist alles anders
steht– es war so traurig und gleichzeitig so schön. Und jetzt sehe ich ihn hier vor mir stehen, mit Tränen in den Augen, die ihm gleich die Wangen herunterlaufen werden, und er ist so traurig und gleichzeitig so schön.
Er braucht mich.
Ich weiß, dass ich den Schritt auf ihn zumachen muss. Er wird ihn nicht machen. Ich breite die Arme aus und er schmiegt sich hinein. Ich halte ihn, während er zittert. Ich streichle ihm über die Haare. Ich flüstere ihm tröstende Worte zu. Dann schaut er mich an, die Tränen strömen ihm jetzt übers Gesicht, und ich küsse ihn. Nur ein Mal, damit ich ihm ein paar Tränen wegküssen kann. Nur ein Mal, weil ich will, dass er es weiß. Ich bin da.
Wir umarmen uns noch einmal, und dann spüre ich, dass der Augenblick zwischen uns sich allmählich verliert. Wir nähern uns dem Zeitpunkt, wo wir die Tür öffnen und in unseren Unterricht gehen müssen. Was hier zwischen uns beiden geschieht, ist ernst und es zählt wirklich; aber es ist eine isolierte Wirklichkeit. Es ist die Wirklichkeit des Augenblicks, der in sich ruht, losgelöst vom übrigen Leben. Sobald wir die Tür öffnen, wird das Leben zurückkehren. Um uns herum wird wieder das Chaos sein.
Ich weiß, dass Kyle gar nicht mehr von mir wollte. Ich weiß, dass ich ihm jetzt etwas von seiner inneren Unruhe und Verwirrung genommen und zu meiner eigenen gemacht habe.
Sogar in der Besenkammer des Hausmeisters schrillt die Glocke zur ersten Stunde. Kyle wischt sich mit seinem T-Shirt übers Gesicht– nicht gerade eine sehr anmutige Geste– und greift nach seiner Schultasche.
» Danke«, sagt er.
» Kein Problem«, sage ich und bedauere sofort, dass mir eine solche Floskel rausgerutscht ist.
Draußen auf dem Flur gehen wir getrennte Wege. Ich habe jetzt keine Zeit mehr, nach Noah zu suchen. Darüber bin ich fast etwas erleichtert.
Aber nach der ersten Stunde, da will ich ihn dann gern treffen, und bis dahin habe ich es auch hingekriegt, den Moment mit Kyle in der Besenkammer in ein surreales, traumähnliches Ereignis zu verwandeln, sodass ich vor mir selbst so tun kann, als hätte er nie wirklich stattgefunden. In der Hand habe ich einen kleinen Brief für Noah. Aber ich warte und warte– und er taucht nicht auf, um ihn abzuholen.
Wahrscheinlich haben wir uns verpasst, denke ich. Nach der zweiten Stunde mache ich mich nicht erst zu den Schließfächern, sondern gleich zum Klassenzimmer auf, aus dem er kommen muss. Aber auch da treffe ich ihn nicht. Und während es mir vor eineinhalb Stunden irgendwie ziemlich recht war, ihm nicht zu begegnen, ist es mir jetzt gar nicht recht, dass er mir ganz offensichtlich nicht begegnen will.
In der nächsten Pause mache ich mich zu dem Klassenzimmer auf, in dem er die vierte Stunde haben wird, und nicht zu dem Klassenzimmer, in dem er die dritte gehabt hat. Jetzt müssen sich unsere Wege kreuzen. Er scheint sich zu freuen, dass er mich sieht, aber ich bin mir nicht sicher, ob er sich wirklich freut. Er steckt meinen Zettel ein und sagt, wir sollten uns später » miteinander verständigen«.
Er hat keinen Zettel für mich dabei.
Darüber mache ich mir so meine Gedanken, als ich mittags auf dem Weg in die Cafeteria bin. Und ich überlege mir auch, wie Kyle sich wohl verhalten wird, wenn wir uns gleich wiedersehen.
Leicht zerstreut gehe ich vor mich hin, als mich Infinite Darlene abfängt.
» Ich muss unbedingt sofort mit dir reden«, ruft sie. » Ich bin außer mir!«
Jetzt kommt’s, denke ich. Infinite Darlene hat inzwischen bestimmt erfahren, dass sie im selben Komitee wie Trilby Pope ist. Und natürlich hat sie damit ein Problem.
» Ich kann nichts dafür«, sage ich entschuldigend.
» Natürlich nicht, wie denn auch«, antwortet sie mit einem schrägen Blick von oben. » Ist ja schließlich nicht deine Schuld, dass Truck sich Jonis Herz geschnappt hat. Meine schlimmsten Befürchtungen sind wahr geworden. Er ist ein grässlich, grässlich, grässlich widerwärtiges Subjekt.«
» Wovon redest du?«, frage ich.
» Meine Güte, hast du das denn noch nicht gehört? Truck und ich hatten gestern so was wie einen Streit, und ich befürchte, da kam endgültig die Wahrheit ans Licht.« Infinite Darlene macht eine dramatische Pause. Als sie bemerkt, dass ich immer noch keinen blassen Schimmer habe, fährt sie fort: » Es war gestern auf der Busfahrt zurück von unserem Spiel in Passaic. Truck hat mürrisch wie ein Pitbull vor sich hin gebrütet, weil er der Meinung war, dass
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