Noahs Kuss - - ...Und plötzlich ist alles anders
Und ein anderer Teil von mir war erschrocken und ist es immer noch. Ein dunkler, verängstigter Teil von mir wünscht sich, ich hätte nie erfahren, wie anders es auch sein kann. Ich habe nicht den Mut, so zu sein wie du.«
» Das stimmt nicht«, sage ich. » Du bist viel mutiger als ich. Du stellst dich all dem– deinen Eltern, deinem Leben.«
» Kyle fühlt sich verloren, Paul. Das will er dir damit sagen. Und er weiß, dass es bei dir nicht so ist. Du bist nie wirklich verloren gewesen. Du hast dich vielleicht manchmal verloren gefühlt. Aber du warst nie wirklich verloren.«
» Und du? Fühlst du dich… bist du verloren?«
Tony schüttelt den Kopf. » Nein. Ich weiß genau, wo mein Platz ist, wogegen ich bin. Ich bin auf der anderen Seite, Paul.«
Ich höre die Leere im ganzen Haus. Ich sehe, wie seine Sportwimpel von früher müde an der Wand hängen. Ich weiß, dass er nicht glücklich ist, und es bricht mir das Herz.
» Tony«, sage ich.
Er schüttelt wieder den Kopf. » Aber es geht jetzt hier nicht um mich. Es geht um dich und Noah und Kyle und was du machen sollst.«
» Das ist doch jetzt völlig egal«, sage ich. » Also ich meine, natürlich ist das für mich wichtig. Aber nicht jetzt, nicht hier mit dir. Erzähl mir, was los ist, Tony.«
» Ich wollte eigentlich nicht damit anfangen. Vergiss, was ich gesagt habe.«
» Nein, Tony. Sag mir alles.«
» Ich weiß nicht, ob du das wirklich hören willst.«
» Natürlich will ich das hören.«
» Weißt du, ich bin gerne mit dir und Joni und den anderen zusammen. Ich gehöre gerne dazu. Aber ich kann mich nie so richtig freuen, weil ich immer weiß, dass ich am Schluss wieder hier sein werde. Manchmal vergesse ich es ganz, und wenn ich das kann, fühle ich mich großartig. Aber die letzte Woche war die Hölle für mich. Als wäre ich wieder auf den Menschen zurückgestutzt worden, der ich früher mal war. Und der bin ich nicht mehr. Da passe ich nicht mehr rein.«
» Dann geh von hier weg«, sage ich– und bin, als ich das sage, sofort begeistert von meiner Idee. » Ganz im Ernst. Lass uns deine Sachen packen. Du kannst erst mal bei mir wohnen. Meine Eltern haben bestimmt nichts dagegen. Und dann überlegen wir in aller Ruhe, wie es weitergehen soll. Wir könnten irgendwo für dich ein Zimmer finden– vielleicht über Mrs Reillys Garage. Du musst nicht hierbleiben, Tony. Du musst nicht so leben.«
Ich bin ganz aufgeregt. Wir organisieren eine Rettungsaktion. Tony ist ein politisch Verfolgter. Wir müssen für ihn einen besseren Aufenthaltsort finden.
Alles ganz einfach, denke ich. Aber Tony sagt: » Nein, ich kann nicht.«
» Wie meinst du das?«
» Ich kann nicht, Paul. Ich kann hier nicht einfach so weg. Ich weiß, du wirst das jetzt nicht verstehen, aber sie lieben mich. Es wäre viel einfacher, wenn sie das nicht täten. Aber auf ihre Weise lieben sie mich. Sie befürchten tatsächlich, dass meine Seele in Gefahr ist, wenn ich nicht doch noch ein normaler Junge werde. Es ist nicht so, dass sie es nicht so gerne haben, wenn ich Jungs küsse– sie glauben, wenn ich es tue, lande ich in der Hölle. In der Hölle, Paul. Ich weiß, dass dir die Hölle nicht viel bedeutet. Mir bedeutet sie, ehrlich gesagt, auch nicht viel. Aber bei ihnen ist das anders. Ihnen bedeutet ihre Religion alles.«
» Aber sie liegen falsch.«
» Ich weiß. Trotzdem– sie hassen mich nicht, Paul. Sie lieben mich.«
» Zur Liebe gehört auch, dass man einen Menschen so sein lässt, wie er ist.«
Tony nickt. » Ich weiß.«
» Und das lassen sie dich nicht.«
» Aber vielleicht kommt das ja eines Tages. Ach, ich weiß nicht. Ich weiß nur, dass ich nicht so einfach davonrennen kann. Sie glauben, die Tatsache, dass ich schwul bin, wird mein ganzes Leben ruinieren. Sie dürfen nicht meinen, dass sie recht haben, Paul. Ich muss ihnen beweisen, dass sie im Unrecht sind. Und diesen Beweis kann ich nicht antreten, indem ich mich ändere oder verleugne, wer ich wirklich bin. Der einzige Weg, um ihnen zu beweisen, dass sie im Unrecht sind, ist zu versuchen, ich selbst zu bleiben und ihnen zu zeigen, dass es für mich gut und richtig ist, so zu sein. In zwei Jahren bin ich mit der Schule fertig. Dann gehe ich fort von hier. Aber bis dahin muss ich einen Weg finden, um mich hier zu behaupten.«
Ich habe Angst um ihn. Was er da sagt, übersteigt meinen Horizont. Was er da tun will, ist heftiger als alles, was ich in meinem Leben jemals durchzustehen hatte.
» Tony«,
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