Noahs Kuss - - ...Und plötzlich ist alles anders
Jungen mit nach Hause bringen wollen, selbst wenn es sich nur um gute Freunde handelt. Wahrscheinlich wäre so was in meinem Fall auch sinnvoll.«
Wenn ich zu meinen Eltern so etwas gesagt hätte, dann hätte das nach trotziger Herausforderung geklungen oder einen sarkastischen Unterton gehabt. Aber bei Tony hört es sich offen und ehrlich an. Er wird nicht bitter oder ironisch. Er sagt klar seine Meinung, aber er bleibt respektvoll.
Ich wüsste nur allzu gern, was seine Mutter in diesem Augenblick denkt. Versucht sie, das alles abzutun? Mit Sätzen wie Das ist nur eine Phase, so was geht auch wieder vorbei oder Daran ist Paul schuld, er übt auf Tony einen schlechten Einfluss aus. Ist sie verzweifelt, weil Tony nicht mehr » gerettet« werden kann? Hadert sie mit dem Schicksal– oder vielleicht sogar mit Gott–, weil ihr eine solche Prüfung auferlegt wurde? Oder nimmt sie das als Herausforderung an? Ich sehe, wie es in ihrem Kopf arbeitet, aber ich habe keine Ahnung, welcher Art ihre Gedanken sind. Ich bin nur eineinhalb Meter von ihr entfernt, aber sie befindet sich in einer vollkommen anderen Welt.
Tonys Mutter schaut die Wände an, sie atmet ein und atmet wieder aus.
» Lass die Tür offen«, sagt sie. » Ich bin in der Küche.«
Tony bringt kein Wort heraus. Er nickt nur. Seine Mutter sieht ihn nicht an. Sie tritt den Rückzug an, zur Tür hinaus, die Treppe hinunter. Tony schaut mich an. Ich strahle über das ganze Gesicht und klatsche lautlos in die Hände. Tony lächelt auch. Dann verschwindet sein Lächeln und plötzlich fängt er an zu schluchzen. Er ringt nach Luft. Sein Körper zittert und bebt. Seit so langer Zeit hat sich dieser Sturm in ihm aufgestaut und jetzt bricht es aus ihm heraus. Sein Gesicht ist blank wie neugeboren, die Arme hat er fest um sich geschlungen. Ich rücke zu ihm hinüber und umarme ihn. Ich sage ihm, wie mutig das von ihm war. Ich sage ihm, dass er es geschafft hat– nicht den ersten Schritt zu tun (das war schon vor langer Zeit), sondern den nächsten. Sein Schluchzen dringt durchs ganze Haus. Ich wiege ihn in meinen Armen, und dann bemerke ich, dass seine Mutter wieder in der Tür steht. Diesmal kann ich ihre Gedanken lesen. Sie würde gerne meinen Platz einnehmen und ihren Sohn trösten. Aber ich weiß, dass sie nicht die Dinge sagen würde, die ich ihm sagen werde. Sie weiß das vielleicht auch. Vielleicht ändert sich das ja auch. Sie sieht mich an und nickt mir zu. Oder vielleicht nickt sie auch Tony zu. Dann zieht sie sich wieder zurück.
» Tut mir leid«, sagt Tony schniefend, als er sich etwas gefangen hat.
» Das muss dir nicht leidtun«, sage ich.
» Ich weiß.«
Der Unterschied zwischen Tony und mir ist: Meine Stärke besteht darin, stark sein zu wollen. Und meine Tapferkeit besteht darin, tapfer sein zu wollen. Ich weiß nicht, ob mir das früher schon mal so klar geworden ist, und ich weiß nicht, ob das Tony früher schon mal so klar geworden ist, aber ich glaube, jetzt wird es uns beiden klar. Wenn man keine Angst hat, dann braucht man auch keinen Mut. Ich glaube, dass Tony sein ganzes Leben lang mit der Angst gelebt hat. Ich glaube, dass er jetzt dabei ist, sie in Mut zu verwandeln.
Soll ich ihm das sagen? Ich würde es gerne, nur wechselt er jetzt das Thema. Und ich lasse ihn, denn es ist an ihm, das zu tun.
» Und was willst du jetzt in der Geschichte mit Noah unternehmen?«, fragt er.
» Warum fragst du nicht, was ich in der Geschichte mit Kyle unternehmen will?«, frage ich neugierig zurück.
» Weil du für Kyle im Augenblick überhaupt nichts tun kannst. Aber du musst was wegen Noah unternehmen.«
» Ich weiß, ich weiß«, sage ich. » Das Problem ist nur, (a) dass er denkt, ich will wieder zu meinem alten Freund zurück, und (b) dass er glaubt, ich würde ihn nur verletzen, weil ich ihn (c) schon einmal verletzt habe, und (d) jemand anders ihn auch verletzt hat, weshalb die von mir verursachte Verletzung ihn nur noch stärker verletzt. Deshalb (e) vertraut er mir nicht, und ich habe ihm ja, ehrlich gesagt, auch (f) nicht viel Anlass gegeben, mir zu vertrauen. Trotzdem will ich (g) jedes Mal, wenn ich ihn sehe, dass (h) zwischen uns alles wieder gut wird, und will ihn (i) wie verrückt küssen. Das bedeutet, dass (j) meine Gefühle sich wahrscheinlich so bald nicht ändern werden, aber (k) seine Gefühle wohl genauso wenig. Deshalb bin ich (l) entweder unglücklich oder (m) hoffnungslos verliebt, oder aber (n) mir fällt ein Weg ein, um
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