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Noahs Kuss - - ...Und plötzlich ist alles anders

Titel: Noahs Kuss - - ...Und plötzlich ist alles anders Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: PeP eBooks
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liebe.
    Am ersten Tag schenke ich ihm Blumen und Zeit.
    Am Abend vorher öffne ich die Türen meines Schränkchens mit Origami-Papier– über tausend quadratische Blätter in leuchtenden Farben. Ich verwandle sie alle in Blumen. Jedes einzelne Blatt. Ich schlafe die ganze Nacht nicht. Ich mache keine Pause. Ich weiß, dass ich ihm nicht nur die Papierblumen schenke, sondern auch die Zeit, die es braucht, um sie zu falten. Mit jeder einzelnen Geste schenke ich ihm Sekunden meines Lebens. Mit jeder einzelnen Blume den Teil einer Minute. Ich befestige so viele wie möglich an Pfeifenreinigern, ich bündle sie zu Sträußen und zu Girlanden, manche davon mit einem Kranich versehen. Am Morgen schmücke ich damit die Schulflure, sie führen alle zu seinem Schließfach hin, damit er weiß, sie sind alle für ihn.
    Jede Minute, jede Papierblume ist eine Botschaft von mir an ihn.
    Am zweiten Tag schenke ich ihm Wörter und Bedeutungen.
    Ich rede nicht mit ihm, nein, ganz und gar nicht. Aber ich beginne eine Liste mit Wörtern, die ich liebe–
    glanzreich
    irrlichtern
    Ephebe
    – und dann füge ich die Bedeutungen hinzu–
    glanzreich – strahlend hell, spiegelnd, ruhmreich
    irrlichtern – sich funkelnd hin und her bewegen, in die Irre führen
    Ephebe – Knabe, der die Pubertät hinter sich gebracht hat
    Danach beschließe ich, im Wörterbuch herumzublättern, um noch mehr besondere Wörter und Bedeutungen herauszusuchen. Ich mache das an Tonys Küchentisch, Tony sitzt neben mir. Uns war sofort klar, dass das keine Hausaufgabe ist, die wir tauschen können– das ist eine Aufgabe, die ich ganz allein bewältigen muss.
    Amarelle – Glaskirsche
    Hendiadyoin – die Ausdruckskraft stärkende Verbindung zweier synonymer Substantive oder Verben
    Wollust – Wohl + Lust, Wohlgefallen, Freude, sinnliche Begierde
    Tonys Mutter kommt in der ersten Stunde ungefähr zwölfmal in die Küche. Zuerst fragt sie, ob wir etwas brauchen. Nach einer Weile tut sie so, als würde sie selbst etwas brauchen– die Schere aus der Schublade, eine Telefonnummer vom Notizblock, der auf dem Tisch liegt. Glaubt sie ernsthaft, ich würde ihren Sohn auf dem Küchentisch vergewaltigen, wenn sie uns mal zehn Minuten allein lässt? Wahrscheinlich kann ich sie durch nichts vom Gegenteil überzeugen. Stattdessen verwirren wir sie durch mein seltsames Tun, weil ich andauernd laut die Wörter vorlese, die ich finde– ich blättere eine Seite auf und suche irgendein Wort heraus, das mir besonders gefällt.
    Philanthrop – Menschenfreund
    azur – himmelsblau
    Nonchalance – liebenswürdige Lässigkeit
    Tony erzählt mir, dass er Kyle anrufen will, um zu hören, wie es ihm geht.
    » Er braucht bestimmt jemand, mit dem er reden kann«, sagt er, » und du kannst das nicht sein.«
    Ich weiß, dass ich es nicht sein kann, und das sage ich ihm auch. Ich fände es cool, wenn Tony ihm bei so manchen Dingen helfen könnte. Ich weiß nicht, warum mir das früher noch nicht gekommen ist, aber die beiden könnten wirklich ein gutes Team sein.
    prophetisch – vorhersagend, seherisch
    luzid – hell, durchsichtig
    Hauch – kaum spürbare Bewegung, Berührung
    All diese Wörter haben fast nichts gemeinsam. Aber genau das mag ich an der Liste. Es gibt so viele Wörter in unserer Sprache und wir gebrauchen davon nur so wenige. Ein paar von diesen Unbekannten will ich mit Noah teilen.
    Nachdem ich meine Auswahl notiert habe– insgesamt ungefähr hundert Wörter–, schreibe ich sie noch einmal in Schönschrift ab, eine lange Liste unter der Überschrift
    Wunderschöne und wenig bekannte Wörter von dieser Welt
    Ich binde die Papierrolle mit einem Band zusammen, das Tony in einer Schublade in seinem Zimmer aufbewahrt hat. Das Band von dem Geschenk, das er von Joni zu seinem letzten Geburtstag bekommen hat. Ich frage Tony, ob er in letzter Zeit mit Joni geredet hat. Er antwortet » Andeutungsweise«, mehr sagt er nicht.
    Am nächsten Morgen, vor der ersten Stunde, lege ich die Rolle mit den Wörtern und Bedeutungen vor Noahs Schließfach. Nach dem Unterricht finde ich in meinem Schließfach einen kleinen Zettel. Noah hat mir ein Wort geschenkt, das er selbst erfunden hat.
    literagrazianoia – danke für die vielen Wörter
    Am dritten Tag schenke ich ihm Raum.
    Es ist Samstag und ich beschließe, ihn in Ruhe zu lassen. Ich stecke ihm einen Brief in den Briefkasten, in dem ich ihm einen schönen Tag wünsche. Ich will ihn nicht zu sehr bedrängen. Außerdem will ich ihm

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