Noahs Kuss - - ...Und plötzlich ist alles anders
Darlene hängte ihre Schachteln an Kordeln, die sie sich wie eine Stola elegant über die Schulter wirft. Im Lauf des Tages überreicht sie Noah dann einen Film nach dem anderen. Amber bastelt eine Schleuder in der passenden Größe und befördert die Filme damit in Noahs Tasche, wenn er nicht hinschaut (und manchmal auch, wenn er hinschaut). Emily und Amy malen Gesichter auf ihre Schachteln und stellen sie als Vater-Mutter-Kind-Familie vor ihn hin. Laura versteckt sie an Stellen, von denen sie weiß, dass nur Noah sie dort finden wird (zum Beispiel unter sein Pult geklebt). Trilby malt ihre Schachtel in den Schulfarben an. Mein Bruder macht keine großen Umstände, geht einfach zu Noah hin und sagt: » Hier, mein Bruder wollte, dass ich dir das gebe.« Perfekt.
Sogar Ted bietet seine Hilfe an. Er macht immer noch einen etwas angegriffenen Eindruck– aber es gehen Gerüchte, dass er sich über seine Enttäuschung bereits hinwegtröstet. Ich habe alle Filme schon verteilt, deshalb verspreche ich ihm, dass er auf Platz 1 meiner Nachrückerliste steht, falls irgendjemand ausfallen sollte. Keiner von uns erwähnt Joni, aber sie ist bei jedem unserer Gespräche anwesend.
Schon seltsam, dass Joni mir jetzt nicht zur Seite steht. (Sie hat auch nicht etwa die Seite gewechselt– sie hat das Spielfeld völlig verlassen.) Ich frage mich, ob irgendjemand ihr erzählt hat, was gerade abläuft. Ich sehe sie zwischen den Unterrichtsstunden, immer mit Chuck, niemals wirft sie mir einen Blick zu. Letztes Jahr um dieselbe Zeit hat sie mir dabei geholfen, die Plakate für den Ball der Lustigen Witwe aufzuhängen und mich jedes Mal geduldig dirigiert, wenn ich wieder mal eines schief an die Wand gehalten habe. Wenn ich spüren könnte, dass sie mich vermisst– oder dass sie wenigstens unsere gemeinsame Vergangenheit vermisst–, dann würde es mir ja schon etwas besser gehen. Aber dieser totale Bruch lässt sogar unsere gemeinsame Vergangenheit düster und traurig werden.
Am sechsten Tag schreibe ich ihm Briefe.
Ich weiß, dass ich nur noch einen Tag habe. Als er mir einen Zettel schickt, auf dem er sich für die Filme bedankt, weiß ich, dass bald die Zeit gekommen sein wird, mit ihm zu reden, herauszufinden, ob ich bei ihm noch eine Chance habe. Aber statt diesen Moment der Wahrheit abzuwarten, beschließe ich, ihm zurückzuschreiben. Zuerst fängt es als kurze Nachricht an– ich antworte ihm, dass ich sicher bin, er werde für die Filme die richtige Verwendung haben. Dann verwandelt sich die Nachricht in einen Brief. Ich kann mit dem Schreiben gar nicht mehr aufhören. Ich schreibe ihm. Auf den Unterricht achte ich nicht mehr, nur manchmal hebe ich den Kopf, um Bilder und Ereignisse zu registrieren, die ich ihm dann mitteilen kann. Mit ihm teilen kann. Es ist nicht so vollkommen anders als vorher, bevor das alles passierte; als ich ihm die vielen kleinen Zettel geschrieben habe. Aber es fühlt sich intensiver an. Eine Nachricht dient dem Update oder der Unterhaltung. Mit einem Brief gibt man einen Teil von sich und seinem Leben– man lässt den anderen an den eigenen Gedanken teilhaben, über zufällige Beobachtungen hinaus.
Ich schreibe den ersten Brief fertig. Ich bitte meinen Vertrauenslehrer in der Pause um einen Umschlag, stecke die Seiten hinein, klebe ihn zu. Anstatt die Übergabe wieder meinen Freunden zu überlassen, gebe ich ihn Noah selbst. Er wirkt etwas überrascht, aber nicht unwillig. Ich fange danach sofort mit dem nächsten Brief an, beginne mit dem Augenblick, in dem ich ihm den ersten Brief überreicht habe, schildere ihm, was mir dabei durch den Kopf gegangen ist. Und plötzlich drängt die ganze Woche danach, von mir aufgeschrieben und geschildert zu werden– ich erzähle ihm jetzt alles, anstatt es ihm zu zeigen, zu beweisen. Aber ich glaube, das ist jetzt in Ordnung, weil ich schon auf so viele Arten und Wege versucht habe, es ihm zu zeigen.
Ich schreibe meinen dritten Brief an Noah im Arbeitsraum der Bibliothek, als Kyle hereinkommt und sich zu mir setzt. Seit der Sache auf dem Friedhof hat er einen Bogen um mich gemacht. Aber jetzt will er offensichtlich mit mir reden. Ich bedecke den Brief mit der Hand und sage Hallo. Kyle sieht mich an.
Er wirkt unruhig und fahrig.
» Ich will nicht, dass zwischen uns wieder alles so schwierig wird«, sagt er schließlich.
» Ich auch nicht.«
» Und was sollen wir jetzt machen?«
In diesem Moment wird mir klar, dass auch Kyle mutig ist. Ich will mich
Weitere Kostenlose Bücher