Nobels Testament
übereinstimmte, musste ich dableiben, deshalb hat es so lange gedauert …«
»Hat er dagesessen und verschiedene Nasen gezeichnet?«
Annika nahm einen Schluck von dem inzwischen kalten Kaffee und schüttelte den Kopf.
»Das war ein Computerprogramm, das ein paar hundert Nasen gespeichert hatte, die konnte man hin und her bewegen und vergrößern und verkleinern. Das Gleiche mit den Augen und Lippen und so weiter …«
»Wow«, sagte Jansson.
Sie umfasste den Plastikbecher und wusste, dass er nachfragte, weil
sie
ihm wichtig war, nicht das Phantombild.
»Danke«, sagte sie leise.
Abrupt drückte der Chef vom Dienst seine Kippe energisch in den Aschenbecher und erhob sich ruckartig.
»Mensch, ist das ungemütlich.«
Und sie blieb allein in der Raucherecke zurück und sah durch das nikotingefärbte Glas, wie sich die Redaktion zu einem neuen Atemzug versammelte, zu einer neuen Ausgabe, einem neuen Tag.
Plötzlich nahm Thomas die flackernden Muster wahr, die von der Straßenlaterne an die Schlafzimmerdecke geworfen wurden, aufgeweckt von einem Geräusch, an das er sich bereits nicht mehr erinnerte. Einen Augenblick lag er still und ließ sich von der Wirklichkeit einholen.
Draußen quietschte etwas, ein Bus oder ein Auto oder ein anderes Fahrzeug, diese Stadtgeräusche, diese konstanten Stressfaktoren. Schaukelnde Lichter machten das Schlafzimmer zu einem Kahn auf dem Meer, nie in Ruhe, immer in Bewegung. Heulende Motoren verwandelten sein Zuhause in einen Resonanzkörper, ein Konzerthaus der Urbanisierung. Er hatte diese Wohnung bis zum Erbrechen satt, hatte sie zum Schreien über. Es würde unendlich schön sein, von hier fortzukommen!
Mit einem Ruck löste er sich von den leuchtenden Mustern an der Decke und drehte sich zu Annikas Betthälfte.
Sie war leer.
Annika war nicht nach Hause gekommen.
Furcht machte sich breit, was konnte geschehen sein? Dass sie sich immer wieder solchen Gefahren aussetzen musste! Über die Nobelpreis-Gala zu berichten konnte kaum die ganze Nacht dauern, oder? Über was, außer über Silvias Halskette, konnte man da schon schreiben?
Er wandte den Blick wieder an die Decke und schluckte hart.
Dieses Gefühl kannte er. Immer häufiger stieg eine gewisse Gereiztheit in ihm hoch, sie drückte ihn, wie ein Stein im Schuh. Warum dachte sie nicht daran, dass sie verheiratet war und Kinder hatte!
Im selben Moment hörte er, wie sich die Wohnungstür öffnete. Ein schwacher Luftzug fuhr über den Boden, als sich im Treppenhaus Heizungswärme und Winterkälte begegneten.
»Annika?«
Sie schaltete das Licht im Flur an und schaute ins Schlafzimmer, auf Zehenspitzen.
»Hallo«, flüsterte sie. »Habe ich dich geweckt?«
Er drückte sich gegen die Matratze, zog die Decke hoch und rang sich ein Lächeln ab.
Nicht ihre Schuld.
»Nein«, sagte er. »Wo warst du?«
Sie setzte sich neben ihn auf die Bettkante, hatte immer noch die hässliche Jacke an und sah merkwürdig aus.
»Hast du gestern Abend keine Nachrichten gesehen?«
Thomas schob das Kissen hoch und richtete sich ein wenig auf.
»Ich hab Sport im Dritten geschaut.«
»Auf der Nobelpreis-Gala sind Leute erschossen worden. Ich habe es aus nächster Nähe gesehen. Ich bin die ganze Nacht vernommen worden.«
Er blickte sie an, es war, als wäre sie sehr weit entfernt, als säße sie nicht hier bei ihm. Wenn er die Hand ausstreckte, würde er sie nicht erreichen, er drang nicht zu ihr durch.
»Wie konnte denn so etwas passieren?«, fragte er lahm.
Sie zog eine Zeitung aus ihrer abstoßenden Tasche. Der Geruch frischer Druckerschwärze schlug ihm entgegen, und er schaltete die Nachttischlampe an.
Der Nobelmord – Verfolgungsjagd der Polizei in der vergangenen Nacht
Alles über das Attentat auf der Nobelpreis-Gala
Stumm nahm er die Zeitung und starrte die Menschen an, die ihm vom Bild zuprosteten: eine dunkelhaarige Frau und ein fast glatzköpfiger Mann, beide lachend, beide festlich gekleidet.
»Ist der Medizinpreisträger erschossen worden?«, fragte er.
Sie lehnte sich über ihn und zeigte auf die Frau.
»Sie ist ermordet worden, Caroline von Behring. Sie war Vorsitzende des Nobelkomitees vom Karolinska-Institut. Ich habe gesehen, wie sie starb.«
Sie zog die Jacke aus, seufzte lautlos und saß mit hängendem Kopf und krummem Rücken da. Sie schien zu weinen.
Mit einem Mal war sie nah, bei ihm, er hatte die Möglichkeit, sie zu trösten.
»Ankan«, sagte er und zog sie an sich. Ihr Kleid knisterte, als sie
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