Nobels Testament
Sie lehnte sich auf die Anrichte und starrte den kleinen Baum an.
Das Haus ist nicht gewöhnlich, dachte sie. Ich sollte glücklich sein. Ich bin doch endlich nach Hause gekommen.
Sie schluckte den Kloß in ihrem Hals herunter und stellte zwei Becher Milch in die Mikrowelle, um warmen Kakao zu machen. Sie toastete zwei Baguettebrötchen und bestrich sie mit Erdnussbutter. Anschließend schnitt sie eine Banane in Scheiben, zerteilte zwei Orangen in Schiffchen und verteilte alles auf zwei Teller. Als die Milch fertig war, piepste die Mikrowelle viermal. Annika riss genervt die Klappe auf. Unglaublich, was hier draußen für ein Lärm herrschte. Wenn es nicht die Vögel vor dem Schlafzimmerfenster waren, erledigten die Haushaltsgeräte den Rest. Die Mikrowelle zu Hause in der Stadt hatte nur dreimal gepiept, und das hatte in all den Jahren immer ausgereicht. Warum jetzt vier Piepser?
Sie stellte Teller und Kakao auf den Tisch und ging Ellen und Kalle wecken.
Der Wechsel in die neue Kindertagesstätte war ziemlich mühsam gewesen. Erst hatte die Gemeinde sich quergestellt und sie nicht vor dem Herbst aufnehmen wollen, aber Annika hatte kombinierte Recherche- und Lobbyarbeit betrieben und eine private Einrichtung gefunden, die sowohl eine Kita als auch eine Vorschulklasse hatte. Sie benötigten Zuschüsse und nahmen daher beide Kinder an. Die Gruppen waren groß, größer als in der Stadt, andererseits hatten sie hier viel mehr Platz, um sich auszutoben. Was die anderen Kinder anbelangte, so unterschieden sich die Vorstadtkinder nicht sonderlich von den Stadtkindern zu Hause auf Kungsholmen. Sie verteidigten ihr Revier und lehnten jede Neuaufteilung ab. Besonders Kalle hatte es schwergehabt, keiner der anderen Jungen wollte mit ihm spielen. Der offensichtlichste Unterschied war noch, dass es hier keine Immigrantenkinder gab.
In ihrem neuen Stadtjeep fuhr sie die Kinder zur Kita. Es war ein etwas kleineres Modell als diese Riesenkutsche, die Thomas sich ausgesucht hatte. Wie immer stritten sich die Kinder darum, wer vorn sitzen durfte, was damit endete, dass beide auf dem Rücksitz bleiben mussten. Während der gesamten Fahrt bebte Kalle vor Schluchzern, und Annika spürte, wie sich Besorgnis in ihrem Magen breitmachte.
Es war nicht gut, wenn er in diesem Zustand in die Klasse kam, es machte ihn verletzbar. Gemeine Haie gab es in jedem Menschenschwarm, von unsicheren und angeschlagenen Personen angezogen wie der weiße Hai von Gezappel im Wasser.
»Na, Kalleballe, wie sieht es aus?«, fragte sie und schaute ihn im Rückspiegel an.
»Nenn mich bloß nicht
so,
dumme Kuh!«
Annika bremste scharf und fuhr an den Straßenrand. Als der Wagen zum Stehen gekommen war, drehte sie sich um und heftete den Blick auf ihren Sohn.
»Wie hast du mich genannt?«
Der Junge sah sie mit großen Augen an, verblüfft über die plötzliche Bremsung.
»Du hast angefangen«, sagte er trotzig.
»Ich wusste nicht, dass du es mir übel nimmst, wenn ich dich Kalleballe nenne, das habe ich schließlich immer getan. Aber wenn dir das nicht gefällt, werde ich es selbstverständlich lassen.«
»Aber du hast angefangen«, sagte der Junge sauer und schlug in der Luft nach ihr.
Sie fing seine geballte Faust.
»Weißt du, was der Unterschied ist? Ich wollte dich nicht verletzen, aber du hast mich dumme Kuh genannt, weil du mich wütend und traurig machen wolltest, oder nicht?«
Kalle senkte den Blick und trat mit den Füßen gegen den Vordersitz.
»Hör auf zu treten und sieh mich an«, sagte Annika und schaffte es, mit ruhiger Stimme zu sprechen. »In unserer Familie sagen wir nicht solche Sachen zueinander. Jetzt entschuldigst du dich bei mir, und dann sagst du nie wieder dumme Kuh zu mir, hast du verstanden?«
Der Junge sah verschämt zu ihr auf und nickte. Seine Mundwinkel zuckten schon wieder.
»Entschuldige, Mama«, sagte er.
»Ach, mein Zwerg«, sagte Annika und löste seinen Sicherheitsgurt. »Komm mal her …«
Sie zog den Jungen zwischen den Vordersitzen hindurch auf ihren Schoß, schaukelte und wiegte ihn und pustete ihm durchs Haar.
»Weißt du«, sagte sie, »du bist doch der beste Zwergenmann der Welt. Von allen Jungs auf der Welt habe ich dich doch am allerliebsten. Weißt du, wie lieb ich dich habe?«
»Bis zu den Sternen?«, sagte Kalle und kauerte sich auf ihrem Schoß zusammen.
»Noch weiter, bis hoch zu den Engeln! Und heute wirst du ganz viel Spaß haben, ja? Du wirst singen und Fußball spielen und leckeres
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