Nobels Testament
Essen kriegen und nett zu den anderen Kindern sein, okay?«
Er nickte an ihrer Brust.
»Darf ich jetzt vorn sitzen?«
»Keine Chance. Nach hinten mit dir.«
Ein Auto fuhr dicht an ihnen vorbei. Die Fahrerin hupte aufgebracht. Annika zeigte der Frau den Finger.
»Ich sage nie dumme Tuh zu jemandem«, sagte Ellen.
Als sie die Kinder endlich auf gesittete, natürliche und ungezwungene Art in ihre jeweilige Gruppe gebracht hatte, war sie völlig fertig. Sie lehnte sich gegen das Auto und betrachtete die Tagesstätte mit einem schwer bestimmbaren Schmerz in der Brust. Es war ein niedriges, einstöckiges Gebäude mit großen Fenstern für Licht und Raum, davor hellgrüner Rasen und ein farbenfrohes Klettergerüst, ein paar Schaukeln schwangen im Wind, ein Haufen Dreiräder lag am Zaun. Die Sonne schien auf ihre sanfte, unentschlossene Frühlingsart, es roch nach Erde und Gras, und sie fühlte sich beklommen.
Welch schreckliche Verantwortung hatte sie auf sich genommen, als sie Kinder in diese Welt gesetzt hatte. Wie sollte sie ihnen ein erträgliches Leben garantieren? Schon jetzt befanden sie sich in einer Welt, zu der sie keinen Zutritt hatte, sie formten bereits ihr eigenes Schicksal, ihre zukünftigen Traumen waren vielleicht schon angelegt, und ihre Möglichkeiten, sie zu verhindern, waren gering.
Was konnte sie schon ausrichten, wenn ein Gleichaltriger gemein zu ihnen war? Wenn irgendein egoistischer Fiesling sich auf ihre Kosten Macht und Ansehen verschaffen wollte? Wenn jemand ihr fantastisches Vertrauen ins Leben missbrauchte?
Natürlich würde das geschehen, es war ihr passiert und den meisten anderen vermutlich ebenfalls. Stellenweise war es entsetzlich gewesen, sie hatte sich durch dreiunddreißig Jahre Leben gearbeitet und sah noch immer keinen tieferen Sinn in all dem Mist.
Vielleicht habe ich eine Depression, ging es ihr durch den Kopf, aber dann schämte sie sich.
Himmel, bin ich verwöhnt, dachte sie. Den ganzen Frühling hatte sie bei voller Gehaltszahlung zu Hause bleiben können, hatte Zeit gehabt, in Ruhe und Frieden ihre alte Wohnung auszuräumen und sauber zu machen. Sie hatte wieder angefangen zu joggen und sich im Fitnesscenter angemeldet. Wer konnte schon so ein Luxusleben führen?
Und dann war vor einigen Wochen der Finderlohn ausgezahlt worden, am 1. Mai, genau wie angekündigt. Sie glaubte es erst, als sie mit dem Kontoauszug vor der Bank stand: 12,8 Millionen Kronen auf ihrem Gehaltskonto. Eigentlich wäre das ein Moment gewesen, an den man sich gern erinnert, aber sie dachte nur mit Unbehagen daran zurück. Ihr Gespräch mit Thomas draußen auf der Straße war völlig schiefgelaufen.
»Wir müssen das Geld anlegen«, hatte Thomas gesagt. »Ich habe ein paar alte Kumpel, die Fondsverwalter sind. Die können es bei Maximalrendite anlegen. Ich ruf sie gleich heute Nachmittag an.«
»Was denn für eine Maximalrendite?«, hatte Annika gefragt. »Auf welche Art sollen sie es denn anlegen? Dachtest du eher an Waffenexport oder Kinderarbeit oder …«
»Mach dich nicht lächerlich«, sagte Thomas.
»… oder gibt es noch etwas Lukrativeres? Irgendeine richtig schreckliche Fabrik, wo sie die Arbeiter festketten und sie verbrennen lassen, wenn ein Feuer ausbricht?«
Thomas nahm seine Aktentasche und ging auf ein Taxi zu. Annika stürzte hinter ihm her, wollte ihn am Arm festhalten, ungefähr so, wie sie es auch bei Kalle immer machte.
»Geld kommt nicht einfach aus dem Nichts«, rief sie ihm hinterher. »Irgendjemand muss es immer erarbeiten. Für das schnelle Geld, das du verdienst, musste jemand richtig schuften. Begreifst du das nicht?«
»Das ist doch alles nur sentimentaler Bullshit«, sagte Thomas, sprang ins Taxi, schlug die Tür zu und fuhr in sein blödes Büro.
Er mochte das Haus nicht besonders.
Es war besser als die Wohnung in der Stadt, fand er, aber es fehlte der
klassische Stil.
»Als ob dein Sechziger-Jahre-Haus draußen in Vaxholm so wahnsinnig klassisch gewesen wäre«, hatte Annika erwidert.
Als sie sich daran erinnerte, wie sie miteinander umgegangen waren, schlug sie sich die Hände vors Gesicht. Irgendwann muss ich doch glücklich sein, dachte sie. Ich muss mich wirklich mal zusammenreißen. Ich muss mir eine Beschäftigung suchen, auch wenn ich nicht arbeite. Ich werde freundlich zu den Nachbarn sein und aufhören, von einem Mord an Sophia Grenborg herumzufantasieren.
Sie setzte sich ins Auto und fuhr Richtung Vinterviksvägen.
Das Haus auf dem
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