Nobels Testament
Tasche auf dem Knie zu balancieren.
»Stehen Sie mitten in den Niagarafällen?«, fragte Q.
Der Wagen blinkte, und die Zentralverriegelung sprang auf. Es gelang Annika, die Fahrertür zu öffnen, aber die Tasche fiel hinunter, und der gesamte Inhalt verteilte sich auf dem Boden.
»Verdammte Scheiße«, sagte sie, den Tränen nahe.
»Ich freu mich ebenfalls, von Ihnen zu hören«, sagte Q. »Ich habe hier ein Bild, das ich Ihnen gern zeigen würde.«
Annika beugte sich hinunter und sammelte den Filofax, das Portemonnaie, den Lippenpflegestift, eine Packung Panodil und ein halbes Päckchen Binden aus der Pfütze.
»Ich wusste nicht, dass Sie neuerdings malen«, sagte Annika und schleuderte die verdreckte Tasche auf den Beifahrersitz.
Sie, die sich geschworen hatte, dass dieses Auto innen niemals,
niemals
schmutzig werden würde!
»Es ist ein Junge«, sagte Q. »Es wäre mir sehr daran gelegen, dass Sie ihn sich einmal ansehen und mir sagen, ob Sie ihn wiedererkennen.«
Sie sprang auf den Fahrersitz, zog die Tür zu und atmete auf.
»Mann, regnet das«, keuchte sie und lehnte den Kopf gegen die Nackenstütze.
»Nicht hier auf Kungsholmen«, sagte Q. »Wirklich niemals auf Kungsholmen. Hier regnet es nie. Wann können Sie hier sein?«
Um diese Zeit hätte der Verkehr eigentlich schon nicht mehr so dicht sein sollen, doch wegen des Regens waren die Staus ins Stadtzentrum unendlich lang und zäh.
Aufregung führt zu nichts, dachte sie. Man wird nur zum A-Typus und stirbt an Herzinfarkt. Sie stellte Schmuse-Hits auf 104,7 ein und dachte an Bosse.
Sie musste erst am Nachmittag in der Redaktion sein.
Anders Schyman hatte eine Mail geschickt und ihr mitgeteilt, dass er sie um 15.00 Uhr sehen wolle. Der bloße Gedanke an das Treffen drehte ihr den Magen um.
Wenn er mich abfinden will, tut er gut daran, tief in die Tasche zu greifen, dachte sie.
Sie versuchte, rational und in Zahlen zu denken: Für wie viel war sie bereit, ihren Job zu verkaufen? Ab welcher Höhe würde es sich richtig anfühlen, das aufzugeben, wofür sie so viel Arbeit und Energie aufgewendet hatte?
Ebba Romanova hatte 185 Millionen bekommen. Es war zu bezweifeln, dass diese Summe ausreichte, um sich Seelenfrieden zu erkaufen. Lebensinhalte standen eben nicht zum Verkauf.
Gott, dachte sie, lass es drei Uhr werden, damit ich das hier hinter mich bringen kann.
Plötzlich fielen ihr die Worte einer amerikanischen Millionärin wieder ein, die sie vor einigen Wochen im Fernsehen gesehen hatte:
Those who say you can’t buy happiness don’t know where to shop.
Der Wagen vor ihr rollte drei Meter weiter.
»Sie sind aber nass«, sagte Q, als sie sein Büro betrat. »Sind Sie in die Vorstadt gezogen?«
»Der nächste freie Parkplatz war in der Pipersgatan«, sagte Annika. »Irgendwie muss hier auf Kungsholmen das Wetter umgeschlagen sein, seit wir telefoniert haben.«
Q sah hinaus, das Wasser rann in Sturzbächen am Fenster hinunter.
»Hat man so was schon gesehen?«, sagte er. »Trocknen Sie sich erst mal ab, Sie ruinieren ja meinen Perserteppich.«
»Zeigen Sie mir das Bild«, sagte Annika und sank auf einen Lehnstuhl.
Q reichte ihr das Foto von einem Mann Mitte zwanzig vor einem großen Segelboot. Sein braunes Haar war vom Wind zerzaust, er hatte klare blaue Augen, einen Sonnenbrand und ein nettes Lächeln. Sie unterdrückte den Impuls, das Lächeln zu erwidern.
»Goldig«, sagte sie. »Was ist mit ihm?«
»Erkennen Sie ihn wieder?«
Sie schaute sich das Foto genau an, es zeigte nur den Oberkörper, weshalb seine Größe und seine Körperhaltung nur schwer zu beurteilen waren.
»Weiß ich nicht«, sagte sie. »Ich glaube nicht.«
Sie kniff die Augen zusammen und ging näher an das Bild ran.
Hatte sie diesen Typen schon einmal irgendwo gesehen? Kam ihr etwas an ihm bekannt vor? Würde sie sich an ihn erinnern, wenn sie ihn schon einmal gesehen hatte?
Sie legte sich das Foto auf die Knie.
»Es hat natürlich mit Nobel zu tun?«, sagte sie.
Q seufzte.
»Und damit wären wir beim Quiz ›Zwanzig Fragen‹«, sagte er.
»Können Sie diesen Mann einordnen?«
Annika hielt das Bild wieder vor sich.
»Nein«, sagte sie nach einer langen Minute. »Nein, ich habe ihn noch nie gesehen.«
Sie legte das Foto auf den Schreibtisch.
»Traurig«, sagte sie. »Er ist tot, oder?«
»Erfroren«, sagte Q. »Er wurde am Montagmorgen im Kühlraum eines Labors am KI gefunden.«
Ein Schauer lief über Annikas nassen Rücken.
Erfroren?
Eine
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