Nobels Testament
ist das ohne Zweifel Vorbeugung.«
»… worum es geht«, fuhr Thomas mit eintöniger Stimme fort, »ist eine kleine Gesetzesänderung, die angewendet werden soll, wenn die Polizei in spezifischen Situationen präventiv handelt …«
»Das ist ja wie zu Zeiten der Hexenprozesse. Man warf die verdächtige Frau in den See, und wenn sie versank und ertrank, war sie unschuldig, und wenn sie schwamm, fischte man sie raus und verbrannte sie!«
Schweigen machte sich zwischen ihnen breit, erfüllte die Küche und schlich die Treppen hinauf und in den Keller hinab.
»Möchtest du wissen, um welche Situationen es sich handelt, oder soll ich die Klappe halten?«, fragte er.
Sie wand die Arme nur noch fester um die Taille und blickte zu Boden.
»Nehmen wir mal an, zwei Männer kommen her und stellen einen Asylantrag«, sagte Thomas, »aber die Polizei bekommt Informationen darüber, dass sie eigentlich hier sind, um ein Attentat zu verüben. Man weiß, dass Moslems in Malmö das Ziel sind, aber nichts über das Wo, Wie und Wann und auch nicht, gegen wen genau der Anschlag sich richtet. Der Gesetzesvorschlag, den du erwähnt hast, beinhaltet, dass die Polizei in einem solchen Fall die Telefone abhören darf. Bislang geht das nur, wenn bekannt ist, wem der Anschlag gilt. Die Grenze soll nun einen Schritt vorverlagert werden, anstatt einfach dazusitzen und abzuwarten, wo es knallt.«
Sie antwortete nicht.
»Auch im zweiten Fall geht es darum, Attentate vorbeugend zu unterbinden. Wir sprechen hier immer noch von Abhören, nicht Eingreifen. Wenn die Hell’s Angels vor Gericht sollen und die Polizei erfährt davon, dass jemand – der Staatsanwalt, der Richter oder ein Polizist – ermordet werden soll, dürfen sie abhören und Post öffnen. Wenn die Angeklagten bezwecken, den Prozess zu verhindern, wird das Verbrechen als systemgefährdend beurteilt, und in diesem Fall würde also das neue Gesetz zur Anwendung kommen.«
Sie schluckte hörbar.
»Aber du und deine persönlichkeitsrechtverliebten Freundinnen werdet sicher dafür sorgen, dass das nicht passiert.«
Er schob den Stuhl geräuschvoll zurück, als er sich erhob.
»Das Ergebnis wird sein, dass wir bis zur nächsten Terrorbombe Däumchen drehen, und dann wird dieser Gesetzesentwurf durchs Parlament gehen, dass es eine Freude ist. Und weißt du, was? Dann werden du und Berit und alle anderen schreien: Warum habt ihr nichts
gemacht?
Warum habt ihr nicht
gehandelt?
Rücktritt,
Rücktritt!
«
Er verließ die Küche, und er verließ das Haus und ging hinüber zu dem kleinen Steingarten am Rande des Grundstücks. Und während ihm der Regen auf den Rücken klopfte, stützte er den Kopf in die Hände und biss sich auf die Wangen, bis er Blut schmeckte.
Freitag, 28. Mai
Annika saß auf ihrem Bett im Schlafzimmer und starrte durch das offene Fenster. Es hatte aufgehört zu regnen, aber hinter den Baumkronen war der Himmel grau wie Asche. Der Sturm zog und zerrte an den Ästen, der Wimpel an Ebbas Fahnenmast knatterte im Wind.
In der Nacht hatte sie wieder Albträume gehabt. Es war lange her, dass sie so häufig und dicht aufeinanderfolgend aufgetreten waren. Im ersten Jahr nach Svens Tod verfolgten sie sie fast jede Nacht, aber seit sie Thomas kannte, waren es weniger geworden. Nach dem Erlebnis im Tunnel unter dem Olympiastadion kamen die Träume wieder öfter, und dann waren die Engel erschienen. Die Engel aus ihren Träumen sangen auch für sie, wenn sie wach war. Inzwischen hielten sie sich fern, aber manchmal erahnte sie ihre Gegenwart im Schatten der Ecken.
In der vergangenen Nacht war Caroline von Behring wieder gestorben, ihre Augen hatten durch Zeit und Raum nach Annika gerufen, doch Annika hörte sie nicht, die Botschaft war getrübt, sie verstand nicht, was Caroline zu sagen versuchte.
Sie stand auf und strich sich das Haar aus der Stirn, richtete die Kissen und die Bettdecke. Sie breitete den Überwurf darüber und zog ihn an den Seiten zurecht.
Thomas hatte seinen verdreckten Anzug an ihre Schranktür gehängt. In ihrem Brustkorb schlug die Wut. Er schien davon auszugehen, dass der Anzug in ein paar Tagen, auf wundersame Weise, frisch gebügelt in einer Plastikhülle der Reinigung wieder in seinem Schrank hing.
Wie sehr sie es auch versuchte, sie war nie gut genug.
Gestern hatte er
versprochen,
zum Abendessen zu Hause zu sein. Er hatte
versprochen,
mit den Kindern zu spielen und Kalles Fahrrad zu flicken.
Stattdessen war er auf direktem Wege in sein
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