Noble House 02 - Gai-Jin
lange, bis ich dort sein werde. Wie ich hörte, wird London mein nächster Posten sein – dann werde ich Ihre Berge besuchen.«
Erlicher zog an seiner Zigarre und blies einen Rauchring in die Luft. »Mein Geschäftsangebot interessiert Sie also nicht?«
»Es ist gewiß richtig, daß die Briten alle möglichen Unternehmungen monopolisieren, alle Seerouten und Meere, alle möglichen Reichtümer aus unterworfenen Ländern…«, Sergejews Lächeln hatte nun keine Wärme mehr, »…die geteilt werden sollten.«
»Dann sollten wir uns vielleicht in einer ruhigeren Umgebung noch einmal unterhalten.«
»Beim Mittagessen, warum nicht? Ich würde meine Vorgesetzten selbstverständlich von allen Gesprächen unterrichten. Falls wir je Bedarf haben sollten, wie soll ich mich mit Ihnen oder Ihrem Vorgesetzten in Verbindung setzen?«
»Hier ist meine Karte. Wenn Sie in Zürich nach mir fragen, werden Sie mich leicht finden.« Erlicher sah zu, wie er die prachtvolle Kalligraphie des soeben entwickelten neuen Druckverfahrens studierte. Graf Sergejew stammte aus altem Adel, während Erlichers Vorfahren arme Bauern gewesen waren, aber trotzdem beneidete er den Grafen nicht.
Ich bin Schweizer, dachte er. Ich bin frei. Ich brauche nicht die Knie zu beugen oder meinen Hut vor irgendeinem König oder Zaren, oder Priester, oder Menschen zu ziehen – wenn ich nicht will. Dieser arme Kerl ist in gewisser Weise noch immer ein Leibeigener.
An der Bar ging Lunkchurch, halb betrunken und schwankend, auf einen anderen Mann los, der aus Leibeskräften schrie. »Dieser verdammte Struan hat völlig seinen Scheißverstand verloren, Scheiß…«
»Um Himmels willen, Barnaby, mäßigen Sie Ihre Ausdrucksweise!« rief der Reverend Tweet, der sich durch die Menge zur Tür drängte. Sein Kragen saß etwas schief, sein Gesicht war gerötet und schweißnaß. »Wenn Sie die Sache von einem fairen Standpunkt aus betrachten, müssen Sie doch zugeben, daß der junge Struan moralisch den richtigen Ansatz hat.«
Der betrunkene Lunkchurch machte vor seiner Nase eine sehr rüde Geste. »Ihre scheißfrommen Vorträge können Sie sich sonstwohin stecken!«
Purpurrot vor Zorn ballte der Reverend die Faust und holte zu einem wirkungslosen Schlag aus. Diejenigen, die Lunkchurch umgaben, zogen diesen zurück, während andere sich um Tweet scharten und dessen Wut zu besänftigen suchten. Dann brüllte Charlie Grimm, stets bereit, jeden beliebigen Fehdehandschuh aufzunehmen, über den Lärm und seine eigene Benommenheit hinweg: »Barnaby, mache dich bereit, vor deinen Schöpfer zu treten!«
Die Umstehenden machten sofort Platz, und unter allgemeinem Jubel begannen die beiden Männer hingebungsvoll aufeinander einzuschlagen.
»Getränke auf Kosten des Hauses«, bestellte der Barkeeper für die, die noch geblieben waren. »Scotch für den Reverend, Portwein für den Grafen und seinen Gast. Und nun hört auf, euch zu prügeln, ihr beide!«
Tweet akzeptierte den Drink und trottete zu einem weit von den Streithähnen entfernten Tisch. Diese rollten jetzt auf dem Boden herum. Der Barkeeper seufzte, leerte einen Eimer Spülwasser über ihnen aus, packte dann jeden von den beiden mit einer Hand und warf sie unter allgemeinem Jubel auf die High Street hinaus.
In ihrem kleinen Haus in der Yoshiwara wartete Hinodeh auf Furansu-san, der gesagt hatte, er werde heute abend kommen, sich aber vielleicht verspäten. Sie war dazu gekleidet, sich auszuziehen: Ihr Nachtkimono und ihre Unterkimonos waren von feinster Qualität, ihr Haar glänzte, Schildpatt- und Silberkämme schmückten die hochgesteckte Frisur, die ihren Nacken vollkommen zur Geltung brachte. Auch die Kämme waren nur da, um herausgezogen zu werden, damit ihr Haar offen bis zur Taille fallen konnte.
Ich frage mich, was Männer am Hals einer Frau so erotisch finden, dachte sie bei sich, und warum es auch erotisch ist, ihn zu verstecken. Seltsam diese Männer! Aber sie wußte, wenn sie ihr Haar offen trug, erregte das Furansu-san, und dies war ihr einziges Zugeständnis; dies allein würde sie bei Licht tun.
Wenn er bei ihr war, würde ihre maiko sie noch vor der Morgendämmerung leise wecken, und sie würde sich im Dunkeln ankleiden. Dann würde sie in den zweiten Raum gehen und die Tür schließen, ihre maiko würde die Tür bewachen, und sie würde sich, falls sie müde war, wieder schlafen legen. Er hatte eingewilligt, dieses Allerheiligste nie zu betreten – nach dem ersten Mal hatte sie darauf bestanden:
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