Noble House 02 - Gai-Jin
nachdem er die Depeschen abgeliefert hatte. Sie sah so einsam aus dort oben, so düster in ihrem schwarzen Kleid, sie, die niemals zuvor Schwarz getragen hatte, nur immer die Farben des Frühlings. Einen Augenblick blieb er stehen, fühlte sich verlockt, sie aufzusuchen, sie zu fragen, ob er ihr in irgendeiner Weise helfen könne, doch er beschloß, es nicht zu tun. Er mußte vor seinem Rendezvous mit Fujiko noch viel erledigen, eine Monatszahlung an Raiko für ›frühere Dienste während der Verhandlungen über den Vertrag‹ war zu leisten, und dann war da noch seine Lektion bei Nakama, die wegen all der Arbeit für Sir William verschoben werden mußte.
Er stöhnte beim Gedanken an all die Sätze und Wörter, die er übersetzt haben wollte, und das neue Schreiben an Anjo, das Sir William bewußt durch Nakama übertragen lassen wollte; es war nicht so, daß er ihm mißtraut hätte, aber er wollte eine japanische Reaktion auf eine kurze, undiplomatische angelsächsische Tirade testen. Schlimmer noch war, daß er mit seinem Journal im Rückstand war und noch keine Zeit gefunden hatte, seinen wöchentlichen Brief nach Hause zu schreiben. Er mußte den Postdampfer unter allen Umständen noch erreichen.
Mit der letzten Post hatte seine Mutter geschrieben, sein Vater sei krank:
…nichts Ernstes, lieber Phillip, nur eine Lungenstauung, die Doktor Feld mit den üblichen Aderlässen und Abführmitteln behandelt. Leider muß ich wie immer sagen, daß ihn das nur noch mehr zu schwächen scheint. Dein Vater hat Kamille und Blutegel schon immer gehaßt. Igitt!
Ärzte! Krankheit und Agonie scheinen ihnen auf dem Fuße zu folgen. Deine Cousine Charlotte legte sich vor vier Tagen ins Wochenbett, so gesund, wie man nur sein kann. Wir hatten die Hebamme bestellt, aber ihr Mann bestand darauf, daß der Arzt sie entbindet, und nun hat sie Kindbettfieber, und man rechnet damit, daß sie nicht überlebt. Auch ihr neugeborener Sohn kränkelt. So traurig, so eine reizende junge Frau, noch keine achtzehn Jahre alt.
Neuigkeiten aus London: Die neue Untergrundbahn, eine weitere Premiere in der ganzen Welt, wird in vier oder fünf Monaten eröffnet! Von Pferden gezogene Trambahnen sind der letzte Schrei, und die Weihnachtssaison verspricht, die beste überhaupt zu werden, obwohl es in einigen der Fabrikstädte Aufstände gibt. Das Parlament debattiert und wird ein Gesetz erlassen, durch das Fuhrwerken ohne Pferde untersagt wird, schneller als zwei Meilen pro Stunde zu fahren, und ein Mann mit einer Warnflagge muß vor ihnen hergehen!
Die Masern sind überall, es gibt viele Tote. Der Typhus ist dieses Jahr nicht allzu schlimm. Die Times berichtet, daß die Cholera wieder in Wapping und den Dock-Vierteln wütet, eingeschleppt von einem indischen Handelsschiff.
Phillip, ich hoffe so sehr, daß Du Deine Brust warm hältst und Wolle und wollene Unterwäsche trägst und die Fenster gegen die schrecklichen Einflüsse der Nachtluft geschlossen läßt. Dein Vater und ich wünschen uns, Du könntest in unser vernünftiges England zurückkehren.
Dein Vater sagt, diese Regierung ruiniere unser Land, unsere Moral und unser glorreiches Empire. Habe ich Dir schon gesagt, daß es in Großbritannien nun mehr als elftausend Meilen Eisenbahnstrecken gibt? In kaum fünfzehn Jahren sind die Postkutschen verschwunden…
So ging der Brief noch seitenlang weiter, und er enthielt alle möglichen Zeitungsausschnitte, die sie für interessant hielt. Und für Phillip waren sie in der Tat wundervoll, denn sie wahrten seinen Kontakt mit der Heimat. Doch zwischen den Zeilen las er, daß die Krankheit seines Vaters nicht auf die leichte Schulter zu nehmen war. Seine Angst wuchs. Vielleicht ist er schon tot.
Während er so auf der Promenade im Regen stand, spürte er einen stechenden Schmerz im Magen. Plötzlich war seine Stirn schweißnaß. Vielleicht war es der Regen, er wußte es nicht genau, er wußte nur, daß er Fieber hatte. Vielleicht habe ich mir wirklich was geholt! O, mein Gott, André hat zwar bei allen Heiligen geschworen, daß Fujiko sauber ist, völlig sauber, und Raiko auch, aber vielleicht trifft das doch nicht zu!
»Aber, um Gottes willen, Phillip«, hatte Babcott heute morgen gesagt, »Sie haben nicht die Pocken, Sie haben nur etwas Unverträgliches gegessen oder getrunken. Hier ist ein Schluck von Dr. Collis’ Tinktur. Wird Sie bis morgen kurieren, und wenn nicht, verschaffe ich Ihnen eine schöne Beerdigung, machen Sie sich keine Sorgen! Bei
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