Noch ein Kuss
das Verhalten ihrer Mutter hatte ihr nicht gefallen, deshalb hatte sie beide Eltern aus ihrem Leben ausgeschlossen. »So bist du also dazu gekommen, Teenagern zu helfen«, stellte er fest.
Carly nickte. »Während des Psychologiestudiums habe ich etwas Ähnliches gemacht, und nach dem Diplom habe ich schließlich all meine Erfahrungen in meine Kolumnen eingebracht. Ende der langweiligen Geschichte.«
»Du hast ihm nie verziehen, oder?«, fragte Mike, während er an den verstörten Vater dachte, den er vor ein paar Tagen besucht hatte.
»Hier drin nicht.« Carly legte eine Hand auf ihr Herz.
»Deine Mutter aber schon – oder zumindest sieht es so aus.«
»Darüber lässt sich streiten. Mom ist ziemlich hart im Nehmen. Sie ist der Ansicht, dass man seinen privaten Kummer für sich behalten soll. Sie hat nicht mit mir gesprochen, weil sie sich weigerte zuzugeben, dass wir … « Mit einer weit ausholenden Geste deutete Carly auf das Haus, in dem sie als Kind ihre Ferien verbracht hatte. » … als Familie ein Problem hatten. Ich bin nicht einverstanden mit dem Leben, das meine Mutter sich ausgesucht hat, aber ich kann ihr diese Form der Bewältigung auch nicht zum Vorwurf machen.«
Mike sah das anders. Seiner Meinung nach machte Carly ihrer Mutter genauso große Vorwürfe wie ihrem Vater und war mit keinem von beiden ins Reine gekommen. Aber jetzt war nicht der richtige Augenblick, um weiterzubohren.
»Ich bin nicht so stark wie meine Mutter , das weißt du ja. Sie hat zu ihrem Mann gehalten. Ich bin nicht bei Peter geblieben. Immerhin haben meine Eltern mich etwas Wichtiges fürs Leben gelehrt.«
»Und das wäre?«, fragte Mike, der spürte, dass das die Schlüsselfrage war.
»Ich habe aus erster Hand mitbekommen, was für eine zerstörerische Kraft Leidenschaft sein kann, und ich werde niemals zulassen, dass sie mein Leben bestimmt«, sagte Carly so entschieden, dass es Mike bis vor kurzem noch schockiert hätte.
Doch nachdem er ihre extreme Reaktion auf die starke gegenseitige Anziehungskraft erlebt hatte, war ihm einiges klar. Offenbar glaubte sie, die körperliche Beziehung von der emotionalen trennen zu müssen, damit sie die Fehler ihres Vaters nicht wiederholte.
Er schaute über den Tisch. Carly hatte angefangen, das halb gegessene Frühstück abzuräumen. Als er in den Hamptons angekommen war, hatte Mike befürchtet, dass er die Geborgenheit suchte, die Carly versprach, und nicht die Frau selber. Doch während sie die Teller klappernd in der Spüle abstellte, erkannte er, wie sehr er sich getäuscht hatte. Und wie sehr sie mittlerweile zu ihm gehörte. Diese Erkenntnis jagte ihm fast so viel Angst ein wie ihr.
Mit Tränen in den Augen drehte Carly sich zu ihm um. Da streckte er die Arme aus und sie sank hinein. Dann vergrub er das Gesicht in ihrem Haar, tröstete sie, so gut er konnte, und schob alle Fragen zur Zukunft beiseite.
Kapitel 9
Nach diesem aufwühlenden Gespräch setzte Carly Mike vor die Tür. Dann verdrängte sie jeden Gedanken an die Ereignisse des Morgens und begann, ihre Kolumnen grob nach Themen zu ordnen: Familie, Freundschaft und die Beziehung zwischen den Geschlechtern. Das schienen die perfekten Überschriften dafür zu sein, und einige Stunden später hatte sie drei verschiedene Stapel vor sich liegen.
Die Familie als Ausgangspunkt zu nehmen, erschien ihr logisch, auch wenn sie auf das Thema im Augenblick nicht besonders versessen war. Dasselbe galt für die Beziehung zwischen Mann und Frau, dachte Carly in Erinnerung an ihre Nacht mit Mike. Also schob sie diese beiden Stapel beiseite. Freundschaft hingegen war ein unverfängliches Anfangsthema. Davon ausgehend würde sie sich zu Paarbeziehungen und schließlich zu Familienkonstellationen vorarbeiten. Bei den letzten beiden Themen wollte allerdings immer noch keine rechte Begeisterung aufkommen.
Carly seufzte. Wie konnte sie Ratschläge erteilen, wenn es in diesen Bereichen in ihrem eigenen Leben so viele Schwierigkeiten und Unsicherheiten gab? Aus Angst, ihre Gefühle nicht zügeln zu können, hatte sie sich jahrelang keine gestattet. Dank Mike konnte sie die Konfrontation mit ihren persönlichen Problemen nicht mehr länger hinauszögern. Aber zuerst musste sie ihren Abgabetermin einhalten. Als Profi hatte sie gelernt, Beruf und Privates zu trennen. Wenn sie das jetzt änderte, verlor sie ihre Objektivität.
Sie stand auf und streckte sich, wobei jeder einzelne verkrampfte Muskel ihr schmerzhaft verdeutlichte, wie
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