Noch ein Tag und eine Nacht
Großeltern?«
»Ja, warum?«
»Notfall, ich erwarte dich bei mir.«
Silvia kam sofort angerast. Sie erschrak, als sie mich sah. Mit dem Gesicht müsse ich sofort in die Notaufnahme, meinte sie.
»Was ist passiert?«
»Heute ist doch Samstag, und mit wem treffe ich mich Samstagnachmittags gewöhnlich?«
»Mit Monica.«
»Genau. Ich habe auf sie gewartet und wollte vorher noch schnell duschen; weil ich Angst hatte, sie könnte klingeln, während ich unter der Dusche stehe, wartete ich aber noch. Als es klingelte, machte ich sofort auf, ohne zu fragen, wer da war, ließ die Wohnungstür angelehnt und bin unter die Dusche. Sie war nicht allein, ihr Freund ist mitgekommen und hat mich mit Fäusten und Füßen traktiert.«
»Wahrscheinlich hat er sie gezwungen, ihm zu sagen, mit wem sie sich traf.«
»Ich weiß es nicht, ich hatte nicht die Zeit zu fragen, was er in meiner Wohnung zu suchen hatte, ich hätte gern eine Erklärung verlangt und ihm gesagt, dass es nicht so ist, wie er denkt, aber da hatte ich schon seine Faust in der Fresse.«
»Na, wir wussten ja, dass so was früher oder später passieren würde…«
Da, genau deswegen ist sie meine beste Freundin, weil sie nie verurteilt. Sie sagt nie: »Hab ich dir ja gleich gesagt«, obwohl sie es mir tatsächlich fast immer gleich gesagt hat.
»Ich muss übrigens noch schnell bei meiner Oma vorbei, die Pflegerin ablösen, meine Mutter kann heute nicht, sie kriegt neue Möbel geliefert.«
»Dann fahre ich dich hin.«
»Okay!«
Wir gingen zusammen nach unten. Ich humpelte. Während sie das Auto holen ging, das ein Stück weit weg stand, lief ich durch den schneebedeckten Garten, der noch unberührt dalag. Das Geräusch des knirschenden Schnees unter meinen Füßen gefiel mir wahnsinnig gut. Crock crock: eins meiner Lieblingsgeräusche. Dann tat ich etwas, das ich schon als kleiner Junge getan hatte, wenn es schneite. Ich sah nach oben und schloss die Augen, um die Flocken auf meinem Gesicht zu spüren. Dann öffnete ich den Mund und streckte die Zunge raus, als wollte ich die Flocken kosten.
Ich steckte ein wenig Schnee in den Mund, dorthin, wo es weh tat. Dann legte ich mich mit ausgestreckten Armen rücklings in das Weiß, wie ich es mir ein paar Minuten zuvor, als ich aus dem Fenster schaute, vorgestellt hatte. Auch das hatte ich als kleiner Junge mit meinen Freunden immer gemacht: den »Schnee-Engel«. Das geht so: Man lässt sich rückwärts in den Schnee fallen und wedelt mit ausgestreckten Armen, so dass eine Flügelform entsteht. Man braucht aber jemanden, der einem beim Aufstehen hilft, damit der Abdruck nicht beschädigt wird.
Als Silvia wiederkam, dachte sie im ersten Moment, ich sei ohnmächtig geworden. Sie rannte los, aber ich konnte sie gerade noch rechtzeitig aufhalten.
»Nicht zu nah rankommen, sonst machst du den Engel kaputt.«
»Hä?«
»Komm langsam näher, aber nicht zu nah, nur bis du mir die Hand reichen und beim Aufstehen helfen kannst.«
»Bist du sicher, dass du keine Schläge auf den Kopf abbekommen hast?«
Mit ihrer Hilfe stand ich auf. Ich drehte mich um und besah mir den Abdruck. Mein Engel war im Schnee gefangen. Perfekt.
Wir fuhren zu Oma, der Mutter meiner Mutter. Sie war krank. Das heißt, manchmal war sie normal, aber es gab Momente, da klinkte sich ihr Gehirn aus, und sie sagte Sachen, die keinen Sinn ergaben. Mich nannte sie oft Alberto, so hieß nämlich mein Opa. Einmal hat sie mich sogar Paolo genannt, und da musste ich lachen, denn ich hatte keine Ahnung, mit wem sie mich verwechselte.
Ihr Zustand hatte sich in letzter Zeit verschlechtert. Als wir kamen, schlief sie noch, obwohl es später Nachmittag war. Wir machten uns einen Kaffee, und während Silvia mit Carlo telefonierte, ging ich ins Schlafzimmer, setzte mich neben Oma und betrachtete sie. Erinnerungen kamen hoch. Die leckeren Dinge, die es immer bei ihr gab: Brot mit Nutella, Pudding, Butterbrot mit Marmelade, Hefeschnecken, Fruchtsaft. Als Kind hatte sie gehungert, und bei mir machte sie alles wieder gut. Wenn wir nachmittags ins Kino gingen, nahm sie eine Tüte mit Essen und Fruchtsaft für mich mit. Und immer wollte sie wissen, was ich mir als Nächstes zu essen wünschte. Wenn ich sie am Wochenende besuchte, fragte sie, kaum dass ich aufgegessen hatte, schon wieder, was ich die Woche drauf haben wollte. Zumindest bis vor ein paar Jahren, solange sie noch rüstig war.
»Oma, ich bin so satt, wie kann ich da ans Essen von nächster Woche
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