Noch ein Tag und eine Nacht
mich auf die Reise, um in New York eine Frau zu treffen, bei der ich manchmal nicht mal mehr genau wusste, wie sie aussah. Ständig schwirrte sie in meinem Kopf umher, doch oft konnte ich ihr Gesicht nicht richtig scharfstellen.
Eine Frau, die mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit fest liiert war.
Trotzdem, ich musste fahren. Es war Zeit, auf neue Menschen zuzugehen.
Michela hatte zu lange meine Neugier auf sich gezogen.
Wo magst du sein?
Ich habe keine Angst vorm Fliegen. Trotzdem ist mir wohler, wenn ich wieder festen Boden unter den Füßen habe. Es ist keine richtige Angst, mehr wie wenn man sich fiebrig fühlt, ohne Fieber zu haben.
Ich schlucke auch keine Beruhigungsmittel oder Schlaftabletten. Ich versuche nur, so müde wie möglich zum Abflug zu erscheinen. Der Flug nach New York ging um zehn Uhr morgens. Den Koffer hatte ich frühmorgens gepackt, nach einem nächtlichen Spaziergang durch die Stadt. Schön. Und wie immer auf meinen Spaziergängen hatte ich auch in dieser Nacht plötzlich dieses Gefühl, das ich nie habe benennen können. Eine Mischung aus Melancholie, Trauer, Unbefriedigtheit, Sorge, Glück. Das haut mich jedes Mal um. Früher hatte ich das oft. Es war etwas, das ich nicht mehr unter Kontrolle hatte und das ich vor allem dann empfand, wenn ich allein war oder innehielt, um nachzudenken. Es kam schnell, wie der Schmerz nach einem Schlag. Als ich um fünf Uhr morgens von meinem Spaziergang nach Hause kam, schlief ich, nachdem ich den Koffer fertig gepackt hatte, auf dem Sofa ein. Abrupt wachte ich wieder auf. Duschte und verließ die Wohnung. Bis kurz davor hatte ich gedacht, ich hätte alle Zeit der Welt, doch als ich jetzt die Tür abschloss und die Treppe hinunterlief, hatte ich plötzlich das Gefühl, zu spät zu kommen. Die Panik, ich hätte etwas vergessen, überkam mich. Entspann dich!, rief eine Stimme in mir. Ich ging noch mal die Liste mit den wesentlichen Dingen durch: Ticket, Pass, Kreditkarte. Wenn man diese drei Sachen dabeihat, kann man losfahren, alles andere ist ersetzbar.
Die Angst, zu spät zu kommen, ist ein Erbe der Zugfahrten mit meiner Mutter und meiner Oma, glaube ich. Zumindest in dieser Hinsicht sind die beiden sich ähnlich: Sie müssen mindestens eine Stunde früher am Bahnhof sein. Wenn der Zug um sieben ging, standen wir immer schon um zehn vor sechs auf dem Bahnsteig. »Es schadet nichts, ein bisschen früher da zu sein.«
Ohne Verspätung kam ich am Flughafen an, erledigte den Check-in und gab meinen Koffer auf. Bücher, Schreibheft, Musik und Zahnbürste nahm ich im Handgepäck mit. Dann ging ich in die Flughafenbar frühstücken. Als ich an der Kasse anstand, drängelte sich eine oberschlaue ältere Frau vor. Es macht mir nicht sonderlich viel aus, wenn mir jemand meinen Platz in der Schlange streitig macht, aber bei alten Menschen macht mich das traurig. Denn wenn alte Leute sich so benehmen, bezweifle ich, dass man mit dem Alter weiser wird. Und was für ein Gesicht sie machte… Ich sagte nichts: Es war auch nicht nötig, sie wusste es eh. Jedenfalls, während ich in der Schlange wartete und mir sagte, dass ich besser Tee als Kaffee bestellte – weshalb hätte ich mir sonst die ganze Nacht um die Ohren schlagen sollen? –, bekam ich eine Nachricht aufs Handy. Camilla: »Ich bin froh, dass wir uns getroffen und miteinander geredet haben. Mach’s gut.«
Seltsam, so eine Botschaft ausgerechnet am Tag meiner Abreise. Wenn ich einen Flieger nehme, sehe ich in jedem Zufall und jeder unerwarteten Sache ein Zeichen. Ausgerechnet jetzt schickt Camilla mir eine SMS … das Flugzeug stürzt ab. Ich las die Nachricht noch einmal.
»Mach’s gut« hat mir noch nie gefallen. Normalerweise klingt da ein Konflikt durch, zum Beispiel wenn eine Frau einem verständlich machen will, dass man drauf und dran ist, sie zu verlieren. Dann schreibt sie nicht: »Du Arsch«, sondern »Mach’s gut«. Diesmal war es aber offenbar anders gemeint. Mach’s gut, Camilla. Ich steckte das Handy in die Hemdtasche und war so von meinen Gedanken über die alte Frau und der SMS abgelenkt, dass ich doch einen Espresso bestellte. Erst als ich das Tässchen sah, bemerkte ich meinen Fehlgriff. Ich goss etwas Milch dazu, was ich sonst nie tue. Vielleicht ist er dann nicht so stark, dachte ich. Als ich mir Zucker nahm, begegnete ich dem Blick der Alten, und ihr Gesichtsausdruck bestätigte mir, dass sie sich ihrer Schuld bewusst war.
Anschließend ging ich auf die Toilette. Normalerweise
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