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Noch ein Tag und eine Nacht

Noch ein Tag und eine Nacht

Titel: Noch ein Tag und eine Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fabio Volo
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am Hals: rote Lippen wie von einem Lippenstiftkuss. Ich hatte nie den Mut gehabt, mir ein Tattoo machen zu lassen. Wegen meiner Angst vor dem »für immer und ewig«. Vielleicht lasse ich mir irgendwann eins machen. Aber bestimmt nicht am Hals.
    »Hast du ein Tattoo?«
    »Nein, aber ich will mir eins machen lassen.«
    »Wo?«
    »Vielleicht am Knöchel.«
    »Und welches Motiv?«
    »Hm, ich denke schon länger drüber nach, aber ich habe noch nichts gefunden, was mir gefällt. Hast du eins?«
    »Nein… aber früher oder später lasse ich mir eins machen.«
    Nach dem Abendessen liefen wir ziellos durch die Stadt und setzten uns auf dem Father Demo Square auf eine Bank, weil dort zwei Japaner Musik machten, ein Junge und ein Mädchen. Er spielte E-Gitarre, sie Bass, berühmte Westernsongs. Ich schaute ihnen zu und hoffte, dass sie ein Paar wären. Ich weiß nicht warum, mir gefiel die Vorstellung eines Liebespaars, das musizierend durch die Weltgeschichte reist.
    »Glaubst du, die beiden machen nur zusammen Musik, oder sind sie auch ein Paar?«, fragte ich Michela.
    »Ich glaube, sie sind ein Paar.«
    »Ich auch.«
    Wir überquerten die 6th Avenue und landeten in einer kleinen Straße namens Minetta Street. Dort küssten wir uns zum ersten Mal. Ich schob ihre Haare zur Seite und nahm ihr Gesicht in meine Hände. Ein wunderschöner Kuss. Endlos, weich, langsam. Echt. Als unsere Lippen sich berührten, durchfuhr es mich wie ein Stromstoß. Ich war glücklich, als hätte ich nach langer Suche endlich das Puzzleteil gefunden, das ich brauchte, um den Himmel zu vollenden. Ich küsse wahnsinnig gern. Ein Gefühl, als wäre ich der fünfzehnjährige Junge von einst geblieben. Ich habe nie mit dem Küssen aufgehört, auch nicht als Erwachsener. Ich mag es, wenn man sich küsst, bevor man miteinander schläft, währenddessen und auch danach. Ja, ich küsse auch hinterher gern. Es gefällt mir sogar, auch wenn es nicht das Vorspiel zum Sex ist. Ich mache es mir gern auf dem Sofa bequem und küsse so lange, bis mir der Unterkiefer weh tut und meine Lippen brennen. Ich verzehre die Lippen der Frauen. Möglichst ohne klebrigen Lippenstift oder Lipgloss. Ich will sie roh. Geraubte Küsse mag ich auch. Also wenn man auf dem Weg zum Kühlschrank an der Frau vorbeigeht und innehält, um sie zu küssen. Man schiebt sie gegen die Wand und betäubt sie mit den Lippen. Plötzliche, unerwartete Küsse. Manchmal unterbreche ich die Frau auch mitten im Satz, weil ich es einfach nicht abwarten kann. Ich betrachte ihre Lippen und höre nicht mehr, was sie sagt. Dann will ich nur noch ihre Lippen auf meinen spüren.
    Diese Nacht schlief ich bei ihr, doch bevor wir uns liebten, duschten wir zusammen. Der Körper der Frau aus der Straßenbahn, den ich mir monatelang vorgestellt hatte, bot sich mir auf einmal nackt dar. Ich zog sie nicht Stück für Stück aus, wie sonst meistens. »Ich gehe duschen«, hatte sie gesagt, und ich hatte spontan erwidert: »Darf ich mit?« Es war mir einfach so herausgeschlüpft, wie einem Kind, das nicht darüber nachdenkt, was sich schickt, sondern unverblümt die eigenen Wünsche äußert. Ich besitze nämlich nicht den Wahnsinnskörper, der mir bei der Eroberung hilft. Im Gegenteil. Und so begann ich sofort meine Mängel aufzuzählen, bevor sie es tat. Aber sie schien nicht sonderlich interessiert, sie sah mich zärtlich an und lachte sogar über meine Sprüche. Ehrlich gesagt besteht mein Körper praktisch nur aus Mängeln. Manche sind unerklärlich, zum Beispiel bin ich eigentlich nicht behaart, aber ausgerechnet am Rücken, knapp unter den Schulterblättern, habe ich zwei Büschel Haare. Zwei haarige Inseln. Es sind nicht viele, aber sie sind da. Weiß Gott, wozu. Doch das konnte ich an dem Abend verstecken, ich stand nämlich hinter ihr.
    Auf meine Frage antwortete sie spontan, ohne nachzudenken: »Klar. Ich hol dir ein sauberes Handtuch.«
    Ein paar Minuten später begann sie sich im Bad auszuziehen, und ich sah sie in dem schmalen Lichtstreifen zwischen Tür und Rahmen. Ich war gespannt auf die Gestalt ihres Körpers. Am liebsten hätte ich sofort die Schwelle überschritten, und sie hätte vor mir gestanden, ganz für mich, und hätte mir erlaubt, sie zu berühren, sie zu streicheln, sie zu begehren und sie zu haben.
    Als ich in die Dusche trat, stand sie schon unter dem heißen Strahl. Es gefiel mir, wie ihre Haare nass wurden und vom Wasser an den Kopf geklebt wurden. Ich merkte sofort, dass das, was sie

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