Noch ein Tag und eine Nacht
an diesem Vormittag schien die Sonne nicht. Ich ließ mich vom Strom der Passanten verzaubern. Viele hielten einen Coffee-to-go-Becher in der Hand, Leute auf dem Fahrrad mit Umhängetasche, die gelben Taxis, Autos mit so viel Hubraum, dass sie sich wie Schiffe anhörten. Ich dachte, ich wäre im Kino. Ich war in einem Film. Ich schickte Silvia eine SMS: »Ich habe Sex gehabt. Aber diesmal mit ihr.« Zwei Minuten später rief sie an. Es wurde ein langes Gespräch. Ein Freund hätte mich sofort in allen Einzelheiten ausgefragt, wie Michela nackt aussah und wie sie im Bett war. Silvia hingegen interessierte sich mehr dafür, wie es mir ging, worüber wir uns unterhalten hatten, ob sie mir noch so gut gefiel wie vorher oder ob sich etwas verändert hätte. Nachdem ich ihr alles erzählt hatte, merkte ich an ihrer Stimme und an dem, was sie zu mir sagte, dass sie sich für mich freute. So was spüre ich. Zum Abschied sagte sie: »Ich würde jetzt gern das Gesicht sehen, das du heute hast.«
Plötzlich kam eine wunderschöne junge Frau herein. Helle Hautfarbe, dunkles Haar, rote Lippen. Sie sprach mit französischem Akzent. Im Arm hielt sie einen schwarzen Welpen. Ganz klein. Ein Anblick, der selbst so rohe Typen wie mich rührt. Als sie ihren Kaffee in Empfang nahm und bezahlte, setzte sie ihn auf den Boden. Und der Hund machte sofort Pipi. Die Frau entschuldigte sich und versuchte es mit einer Papierserviette wegzuwischen, doch der junge Mann von der Theke sagte freundlich, er werde sich darum kümmern. Ich musste an den Tag denken, mein Vater war schon weg, als Oma mich zu einer Freundin mitnahm, sie habe eine Überraschung für mich. Als wir ankamen, führte die Freundin uns hinters Haus in den Hof, wo eine Kiste mit vier Welpen stand.
»Such dir einen aus«, sagte Oma. Ich wusste nicht, was ich tun sollte, ich hätte am liebsten alle vier gehabt. Ich konnte mich nicht entscheiden, so dass Oma schließlich zu mir sagte: »Komm schon, Giacomo, entscheide dich, wir können nicht alle nehmen.«
Wirklich nicht? Sie sind doch klein, sie haben genug Platz bei uns, hätte ich am liebsten geantwortet.
Plötzlich versuchte einer der vier, aus der Kiste zu krabbeln, überschlug sich und fiel nach hinten. Diesen nahm ich. Nicht ich hatte meinen Hund ausgesucht, er hatte sich mich ausgesucht. Es war ein Rüde, und ich nannte ihn Cochi. Aber meine Mutter wollte ihn nicht in der Wohnung, weil er nicht stubenrein war und Kratzer auf den Boden machte, und deshalb lebte er bei Oma, obwohl er mir gehörte. Aber da ich ja auch fast immer bei ihr war, war es eigentlich egal.
Cochi war erst ein paar Tage bei Oma, als er in der Küche Pipi machte. Da packte sie den Hund am Kopf und wischte damit wie mit einem Lappen das Pipi auf. Sie wischte das Pipi mit Cochis Kopf auf. Ich fing an zu weinen. Ich hätte nie gedacht, dass meine Oma so etwas Grausames tun könnte, so kannte ich sie gar nicht. Aber sie erklärte mir, dadurch lernten die Hunde, dass sie das nicht dürfen. Ich hörte auf zu weinen, nahm den Hund und redete ihm gut zu, dass er das nicht mehr tun solle. In meiner Anwesenheit ist es dann auch nicht mehr passiert, vielleicht, wenn ich nicht dabei war. Jetzt hätte ich der wunderschönen Frau gern den Tipp gegeben, das Pipi mit dem Gesicht des Hundes aufzuwischen und nicht mit Servietten. Wie sie wohl reagiert hätte? Ich sagte nichts und verließ das Lokal.
Es fing an zu regnen. Ein Platzregen. Wenn es so regnet, sagt man in Amerika: It’s raining cats and dogs. Katzen und Hunde… Also echt!
Auf der Suche nach Schutz vor dem Regen landete ich unter dem Vordach eines Kinos. Das Sunshine Cinema in der East Houston Street. Es war halb elf, um elf begann die erste Vorführung. Kino am Vormittag, märchenhaft. Ich kaufte eine Karte und ging hinein. Es roch nach Popcorn, aber um diese Uhrzeit fand ich das eher unangenehm. Ich war allein im Saal. Als der Film begann, waren wir zu fünft.
Meine Englischlehrerin hatte einmal gesagt, eine Sprache lerne man mit am schnellsten, indem man ins Kino oder ins Theater geht, auch wenn man anfangs nichts versteht. Es muss eine weitverbreitete Theorie sein, denn die Leute im Saal sahen alle aus wie Ausländer.
Ich füge der Liste mit den Dingen, die ich mag, hinzu: vormittags ins Kino gehen.
Als ich wieder draußen war, entdeckte ich eine SMS von Michela: »Ich habe um zwei Mittagspause, sollen wir zusammen essen? Ich möchte dir einen Vorschlag machen.«
Ich ging auf einen Sprung ins
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