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Noch ein Tag und eine Nacht

Noch ein Tag und eine Nacht

Titel: Noch ein Tag und eine Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fabio Volo
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Augenblick, und dann erfand ich eine Geschichte. Ich sprach mit geschlossenen Augen, malte mir aus, was ich erzählte, und streichelte ihr dabei sanft über den Kopf.
    Nach einer Weile schlief sie ein. Ich streichelte sie weiter und schlief dabei selbst ein. Das kommt vor. Als ich aufwachte, stand ich auf und ging ins Bad, um mir das Gesicht zu waschen. Ich nahm den Stift, den ich gekauft hatte, und schrieb auf die Kacheln in der Dusche: »Es ist schön, an den Orten zu flanieren, die du mir gezeigt hast.«
    Zur Beruhigung schrieb ich noch darunter: »Der Gedanke ist unauslöschlich, der Stift nicht.«
    Alle im Haus schliefen. Ich lehnte mich an die Tür zu Michelas Zimmer und beobachtete sie. Ich war schon angezogen, hatte meinen Rucksack mit dem Computer auf dem Rücken, den iPod angeschaltet und die Kopfhörer auf. Radiohead, die acoustic version von Creep. Ich stand da, bis das Lied fast zu Ende war, und sah ihr beim Schlafen zu. Ein Mädchen. Ihr Gesicht, eine Hand am Mund. Auf dieser Reise aus Bildern und Tönen fragte ich mich: Wer bist du, wer bist du wirklich? Warum du? Warum jetzt? Wenn ich wüsste, dass ich dich nicht wecke, dich nicht aus deinen Träumen reiße, würde ich dich weiter streicheln. Warum rufst du diese Gefühle in mir wach, und warum scheint zwischen uns alles so natürlich?
    Als ich auf die Straße hinunterkam, war es fast Morgen. Radiohead, Nice Dream . Es war nicht mehr ganz dunkel, der Himmel wurde immer blauer. Ein paar Sterne waren noch zu sehen. Ein wunderbarer Spaziergang, ich war glücklich. Langsam wurde es hell, zaghaft zeichneten sich die Konturen der Stadt ab. Der Morgen war kühl. Es war, als hätte ich viele Stunden geschlafen, die Luft streichelte meine Seele, und in den Haaren spürte ich die Sterne. Wenn ich durch New York spaziere, geht es mir immer gut, dann habe ich das Gefühl, dass sich mein Schicksal erfüllt, dass ein Teil von mir abfällt und ich unterwegs bin zu einem neuen Ich. Keine Ahnung, ob es daran liegt, dass ich die Stadt in zig Filmen gesehen habe, oder ob sie einfach Bestandteil meiner Fantasie ist, jedenfalls merke ich, dass mir hier alles gefällt, die Straßen, die Gerüche, all die verschiedenen Dinge, und ich gute Laune bekomme. Diesmal jedoch fühlte ich mich wie neugeboren, wie jungfräulich. Eine Bekehrung wie beim heiligen Paulus, eine Art geistige Neugeburt. In diesen Tagen fiel der Panzer von mir ab, der mir in meiner ersten Lebensphase als Schutzschild gedient hatte. Manche Menschen schaffen es nie, sich einen solchen Panzer zuzulegen, andere werden ihn nie wieder los. Deswegen war es für mich so wichtig, diese neue Phase bewusst zu erleben: Verletzlichkeit, Empfindsamkeit, Schmerz und Freude.
    Mir kam es vor, als wäre das Leben ein Spiel in einer Schachtel und ich hätte mich bisher nicht getraut, sie aufzumachen. Eine Sache aber beschäftigte mich weiterhin, und diese Frage stelle ich mir bis heute: Woher kommt es, dass ich mich so fühle? Ist es wirklich möglich, dass sich zwei Menschen an einen Tisch setzen und beschließen, sich zu lieben und zusammen glücklich zu sein?
    Mal abgesehen davon, dass wir diesen Entschluss nicht am Tisch gefasst hatten, sondern einander auf geheimnisvolle Art immer schon gesucht hatten. Irgendwie hatten wir uns in dieser Straßenbahn gegenseitig erwählt. Zwischen uns hatte es stets eine Art stillschweigende Übereinkunft gegeben. Von Anfang an war mir unter all den Menschen in dieser Straßenbahn nur sie allein aufgefallen. Sie und alles, was sie tat, selbst die kleinste Geste. Alle anderen waren für mich nur Masken, sie allein hatte ein Gesicht. Vielleicht liegt das Geheimnis ja darin, dass man sich nur einen Augenblick öffnen muss. Wie bei einer Mauer: Aus dem kleinsten Riss wächst eine Pflanze. Plötzlich war ich die Mauer, und aus einer klitzekleinen Ritze wuchs ein zartes Pflänzchen aus Gefühlen und Neugier. Die anderen Frauengeschichten hingegen waren wie bunte Blumensträuße, die man nach Hause trägt und in die Vase stellt. Obwohl man jeden Tag das Wasser wechselt, verblühen sie allmählich und gehen schließlich ein. Michela war wie eine Pflanze, die stetig wächst. An diesem Morgen fühlte ich mich frei, und dieses Gefühl war mir völlig neu. Alles kam mir verändert vor. Plötzlich konnte ich tun und lassen, was ich wollte. Das Leben lag in meiner Hand, ich konnte frei entscheiden, über den heutigen Tag, über mein Schicksal. Alles war möglich.
    Vor mir lag ein Tag ohne Termine, ohne

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