Noch einmal leben
John?“
Überrascht antwortete Roditis: „Wer hätte das je bezweifeln können?“
„Das Kaufmann-Bewußtsein ist in seiner Stärke nicht zu unterschätzen.“
„Das ist mir bewußt. Aber ich bin darauf vorbereitet und traue mir das zu. Sie haben mich doch getestet.“
„Ja. Und dennoch kann ich ein gewisses Unbehagen nicht unterdrücken. Einem Mann wie Paul Kaufmann fiele es überhaupt nicht schwer, einen Körper zu übernehmen und zu einem Dybbuk zu werden …“
„Niemand wird auf meine Kosten zum Dybbuk“, sagte Roditis hart. „Noch nicht einmal Paul Kaufmann.“
„Es gibt Augenblicke“, murmelte Santoliquido, „da denke ich mir, das Bewußtsein des alten Mannes würde am besten für immer im Depot bleiben.“
„Das wäre ein Verbrechen an ihm! Dazu haben Sie keinerlei Recht!“
„Ich habe ja nicht gesagt, daß ich das auch tue. Aber die Versuchung ist groß. Auf der anderen Seite besteht die Gefahr, daß er als Freibeuter, Kannibale, Marodeur in die Welt zurückkehrt.“
„Er war doch bloß ein gnadenloser und aggressiver Geschäftsmann“, sagte Roditis. „Geben Sie ihn mir, und er bleibt jede Sekunde unter Kontrolle. Ich weise ihn in seine Schranken.“
„Sie sind sehr selbstsicher, John. Kommen Sie doch bitte mit.“
„Wohin?“
„Zum Zentrallager. Ich lasse Sie Kaufmann einmal etwas besser kennenlernen.“
Roditis betrat das Lagergewölbe nicht zum ersten Mal. Dennoch kam bei jedem Mal wieder Ehrfurcht in ihm auf, wenn er durch den niedrigen Gang mit seiner Ansammlung von beunruhigenden Schirmen bis in die gewaltige, düstere Höhle gelangte, wo die Behälter mit den Seelen ruhten. Die beiden Männer erreichten eine Probekammer. Santoliquido griff sich eins der Tragekästchen und hielt es fest unter den Arm geklemmt.
Unter dem Eindruck der kolossalen Halle mit ihren zahllosen Ebenen voller Behälter und Urnen sagte Roditis: „Kennen Sie das Elfte Buch der Odyssee? Odysseus steigt in den Hades hinab, um bei der Seele des Teiresias Rat zu finden.“ Johns Hand fuhr über das dunkel glänzende Geländer. „Und genau dort befinden wir uns auch: im Hades, in der Stadt des unendlichen Nebels. Wir landen mit dem Boot und reisen an den Gestaden des Flusses Oceanos entlang. Odysseus zückt sein Schwert, zieht einen Graben und gießt dort die Trankopfer für die Toten hinein: Honig, Milch, Wein und Wasser. Er streut weiße Gerste. Er durchschneidet den Schafen die Kehle. Das dunkle Blut strömt in den Graben, und davon angelockt strömen die Seelen der Toten aus den Tiefen herbei. Odysseus sieht seinen unbeerdigten Freund Elpenor. Seine Mutter nähert sich ihm, aber er schiebt sie beiseite, um mit Teiresias zu sprechen. Und er trifft andere: die Mutter des Ödipus, die Frau des Amphitrion, Ariadne, Poseidon. Dies hier ist der Hades, Santoliquido. Wir können die Seelen der Toten zusammenströmen lassen.“
„Sie haben Ihren Homer gut gelesen“, sagte Santoliquido.
„Ich bin Grieche“, antwortete Roditis gelassen. „Überrascht Sie das?“
„Sie sind mir bislang nie so … so belesen vorgekommen, John.“
„Aber das hier ist doch der Hades, nicht wahr? Kein höllischer Ort und auch nicht Dantes Inferno, sondern einfach ein Speichergewölbe. Genau wie Homer es beschrieben hat. Spüren Sie das nicht auch, Frank, wenn man hier steht und in die Dunkelheit blickt?“
„Ich habe diese Gefühle viele Male gehabt. Allerdings nicht genau so wie bei Homer. Wir Römer haben auch einen Dichter, der den Hades besungen hat. Erinnern Sie sich? – ‚Der Abstieg in die Unterwelt ist nicht schwer. Nacht und Tag liegen offen an den Toren des dunklen Königreichs des Todes.’“
„Vergil?“
„Ja. Äneas stößt bei ihm auch zu den Toten vor. Er pflückt einen goldenen Zweig und erkundigt sich nach seinen Kameraden. Eine tiefe, dunkle Höhle, aus deren Schlund ständig Flammen emporstoßen. Er folgt einem Pfad, nimmt die Fähre über den Fluß und begegnet dem Schatten seines Steuermanns Palinurus. Und er findet die weinende Dido. Und seinen Vater Anchises. Daran habe ich oft gedacht, John.“
„Dann öffnen Sie doch den Hades und zeigen Sie mir Paul Kaufmann.“
„Kommen Sie mit in die Kammer.“
Sie traten ein. Roditis Stimmung sank. Er starrte auf das Kupferkästchen, in dem sich Paul Kaufmanns Bewußtsein befand. Der furchtbare Wunsch kam in ihm auf, es dem schwerfälligen Santoliquido zu entreißen und damit wegzulaufen. Aber das war natürlich Unsinn. Er wartete, bis der
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