Noch Viel Mehr Von Sie Und Er
versprechend aus, führte aber zu Glasbruch. Völlig unerschrocken kletterte er nun an der Bistro-Verkleidung hoch, um durch die Lücke zwischen Sichtfenster und Waggondecke an ein Glas zu kommen. Dieser Stunt sah toll aus, und kurz bevor ihn die Kräfte verließen, kam der zweite Fahrgast zu Hilfe, stützte ihn mit einer Räuberleiter und sagte: »Würden Sie uns bitte warnen, wenn der Schaffner kommt?« »Aber selbstverständlich«, antwortete der dritte Fahrgast und nahm die eine Abteiltür ins Visier und ich die andere. Die Fummelei dauerte, aber schließlich zog er stolz zwei kleine Sektgläser hervor und ich goss uns ein. »Ich habe auch eine Dose Bier und würde gerne teilen«, meldete sich jetzt der dritte Fahrgast zu Wort, zog eine Isoliertüte mit dem Bild eines gebratenen Hähnchens aus seinem Aktenkoffer, worin sich eine kühle Dose befand. Das war der Startschuss für den Räuberleitererprobten, sich ebenfalls ein Glas zu organisieren. Er wählte eine neue Art des Eingriffs von der anderen Seite, was auch sofort zu Bruch führte, aber nach kurzer Schrecksekunde setzte er seine Bemühungen fort und eroberte freudestrahlend ein echtes Pilsglas, das umgehend gefüllt wurde. Jetzt stieg die Stimmung rasant und ich führte einen innerlichen Freudentanz auf, weil sich dieses dröge Abteil innerhalb kürzester Zeit in einen Abenteuerspielplatz verwandelt hatte. Während wir vier uns fröhlich zuprosteten, kam der Schaffner. Es war ihm anzumerken, dass ihn dieses Szenario zutiefst verunsicherte, aber er verlor kein Wort, kontrollierte die Fahrkarten und verschwand. Wir kamen locker ins Gespräch und erfuhren vom Brathähnchentypen alles über die zukünftige Herrenmode, denn der Fachmann kam gerade von der Messe. Das Pendant zu meinem Sektglas erzählte, dass er 24 Jahre lang in meiner Heimatstadt Küchen verkauft hatte, nun magenkrank sei und fast täglich abends nach Bad Neuenahr fahre, um zu tanzen. Der Pilsglasbesitzer entpuppte sich als Suggestopäde und Bachblüten-Therapeut, der auch Schamanismus-Seminare gab und Erfolgstrainer trainierte. Bingo! Das waren doch die Themen, die mich gerade am meisten interessierten. Der Abenteuerspielplatz verwandelte sich kurzfristig in ein ärztliches Behandlungszimmer und nach gründlicher Anamnese gab es wohlmeinende Ratschläge und Empfehlungen für den magenkranken Tänzer. Der blühte förmlich auf und bedauerte zutiefst, in Düsseldorf aussteigen zu müssen, nicht ohne den sich heimlich durchschleichenden Schaffner zu fragen, ob es möglich sei, bis Bochum weiter mitzufahren und von dort aus wieder Anschluss zurück nach Düsseldorf zu haben. Das ging um die Uhrzeit gar nicht mehr, brachte aber den Schaffner dazu, uns die im Zug befindlichen Sicherheitskräfte auf den Hals zu hetzen. Sie kamen, als das Behandlungszimmer gerade zum Seminarraum wurde, nahmen neben uns Platz und ließen uns nicht mehr aus den Augen. Was sie zu hören bekamen, steigerte ihre Verwirrung. Das Fachgespräch über Bachblüten klingelte in ihren Ohren, der kurze Vortrag über westlichen Schamanismus versetzte sie ins Grübeln und nach der ausführlichen Darstellung des schamanistischen Philosophierades, das die weltlichen Denkansätze den Energien der Himmelsrichtungen zuordnet, verließen die Safety-Boys mit unsicherem Schritt unseren Spielplatz. Kurz drauf musste ich auch raus und bekam zum Abschied noch ein schamanistisches und ein topmodisches Küsschen auf beide Backen gehaucht, landete restlos glücklich im Taxi und starrte verzaubert in die Nacht. Es stimmte also, Gefühle entstehen im Kopf und geteilte Freude ist doppelte Freude, da sagte der Taxifahrer plötzlich völlig unvermittelt: »Ich mache mir solche Sorgen.« Es klang wirklich herzzerreißend kümmerlich. »Ich mach mir solche Sorgen, ich weiß nicht, ob ich alles richtig oder falsch mache im Leben. Ich bin völlig durcheinander. Ich bekomme langsam Angst, Tag und Nacht nur Sorgen.« Spontan und voller Überzeugungskraft antwortete ich: »Ach, machen Sie sich keine Sorgen. Sorgenmachen ist Quatsch und kostet viel Lebenszeit. Machen Sie einfach alles, was Sie tun, so gut Sie es können, dann brauchen Sie sich überhaupt keine Sorgen mehr zu machen.« Er schien erleichtert, ich hörte ihn einige Male tief durchatmen und beim Bezahlen lächelte er mich an. Sein Lächeln war zwar noch zart, aber immerhin ein erster Schritt, befand ich und kehrte zu meinem Freudentaumel zurück. Bei rotem Wein und Tabak verdaute ich genussvoll
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