Noch Viel Mehr Von Sie Und Er
Abschuss ins Nirwana gleich. Statistiker wären sicher begeistert von dieser Möglichkeit, könnten sie doch exakt ausrechnen, wie viele Deutsche es 2022 zu Beginn der Tagesschau noch gibt, und jeder Einzelne wüsste ebenfalls genau, ob er noch dabei ist. Wer will das schon? Höchstens Bestatter, weil sie ihre Urlaubstermine über Jahrzehnte hinweg effizient planen könnten und statt der üblichen Trauerklöße lebhafte Kundschaft im Laden hätten, z. B. Frauen, die das Sortiment an letzten Chemisettchen nach etwas Vorteilhaftem durchwühlen würden, statt das kniepigen Verwandten zu überlassen. Natürlich bräuchten sie Umkleidekabinen, um vorher zu sehen, wie es nachher ausschaut. Männer würden ihre Trauerfeier sicher bis ins kleinste Detail planen, angefangen mit den Getränken bis hin zur Liste der ›personae non gratae‹, was für die Betroffenen einem Lokalverbot für den Friedhof gleichkäme.
Mehr Gedankenspiele brauche ich nicht, um das Älterwerden mit offenem Ende als gut, wenn nicht sogar hervorragend zu empfinden. Sehe ich von den Stimmungstiefs ab, die runde Geburtstage mit sich bringen, altern wir in aller Regel unmerklich vor uns hin, bis wir eines Tages plötzlich erkennen, dass die Abrissbirne der Zeit auch die eigene Fassade voll erwischt hat. Besonders Frauen tun sich schwer, von dem Gefühl Abschied zu nehmen, hochattraktiv und umwerfend begehrenswert zu sein, denn das heißt ja auch, »Ade Bikini, Minirock und Kleines Schwarzes«. Jetzt müssen figurformende Dessous her und Halstücher werden unter dem Gesichtspunkt der Schadensbegrenzung angeschafft. Zu allem Überfluss gewinnen ausgerechnet zu dieser Zeit Männer an Attraktivität, und das über die gleichen Verfallssymptome wie graue Haare und Falten. Wirkten sie bis dahin immer noch wie unreife Schulhof-Casanovas, strahlen sie nun zum ersten Mal Souveränität aus – manchmal.
Und während wir still und ergeben, ganz selten auch laut und klagend durch das tiefe Tal namens Klimakterium stolpern, nimmt mancher Mann lieber Anlauf zu einem ›neuen‹ Leben mit einer Jüngeren und zeugt Kinder, die er dann als Opapa mit seinen Urenkeln zusammen in die Kita bringt. Auf so was kommen Frauen nur in Büchern, vorzugsweise von Schweizer Autorinnen, und Frauenzeitschriften. Die Normalfrau reizt eher, dass der Sex nun endlich von Folgen befreit ist, aber leider kaum noch stattfindet. Ich hoffe, Ihnen ist nicht entgangen, wie raffiniert der letzte Satz mit der Doppelbedeutung von ›reizen‹ spielt, einmal als ›interessieren‹ und dann als ›wütend machen‹. So gesehen greifen Frauen, wenn überhaupt, nur aus Notwehr zu einem jüngeren Lover. Es handelt sich also nicht – wie beim Mann – um eine Ernährungsumstellung, sondern um eine kleine Zwischenmahlzeit.
Jugend ist eine geile Angelegenheit – keine Frage, und Alter ist nichts für Weicheier. Spätestens ab der gefühlten Lebensmitte ist offensichtlich, dass Lebensstürme nicht nur am Nordpol tiefe Schneisen ins Gesicht meißeln. Auch unter der Schädeldecke wirbeln sie einiges an Erfahrungen und Wissen zusammen, mit dem man herausfinden kann, wie es geht, nicht immer die gleichen Fehler zu machen und dabei auf die eigene Fresse zu fallen oder zu kriegen. Psychologen nennen das die ›kristalline Intelligenz‹, und sie ist wohl der Grund dafür, dass es kaum ältere Leute unter den Selbstmordattentätern gibt.
Apropos Fresse, längst ist nachgewiesen, dass Anti-Falten- und sonstige Cremes rein gar nichts von dem ausrichten, was uns die Kosmetikwerbung gerne unter die schrumpelige Pelle jubeln möchte. Die äußere Hautschicht ist längst unempfänglich für diesen Schnickschnack, wie Midas Dekkers in seinem Buch ›An allem nagt der Zahn der Zeit‹ berichtet. Und darüber, dass nichts in die inneren Schichten eindringen kann, sollten wir heilfroh sein, denn das könnten Bakterien sonst auch. Statt also unfruchtbaren Acker zu düngen und Gurkenscheiben auf der Epidermis welken zu lassen, lehne ich mich bequem zurück und genieße die Vorteile, die zunehmendes Alter ohne Zweifel mit sich bringt, wie z. B. dicke wetterfühlige Knie und Rückenschmerzen. Sie verschaffen mir eine Auszeit bei der Hausarbeitsroutine. Heute bügelt zur Abwechslung der Mann und mal sehen, was er sonst noch kann, vielleicht Kochen? In meiner neu gewonnenen Freizeit kann ich in aller Ruhe meine Krampfadern betrachten, den Oberarmhautlappen beim gemeinsamen Schunkeln zusehen oder einfach nur froh sein, dass
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