Nocona: Eine Liebe stärker als Raum und Zeit
anderer für ihn. „Wir kommen wieder nach Hause. Vertrau mir.“
„Diese Nacht … ich schaffe das nicht. Nicht noch einmal.“
„Sei stark, Schwester. Ich bringe dich nach Hause. Ich schwöre es bei der Heiligen Mutter.“
Nocona zwang sich zu einem Lächeln, das schlimmer schmerzte als jede Wunde an seinem Körper. Seine Schwester stimmte ihren Medizi n gesang an. Ihre Stimme war zittrig, doch sie sang mit hoch erhobenem Kopf und flüchte te sich in den letzten Halt, der ihr blieb. Sie sang vom Gras, von den Sternen und der nächtl i chen Prärie. Von dem Fluss, an dem sie ihr Lager aufgeschlagen hatten, und dem Singen der Vögel am Morgen.
Die Männer hörten ihrem Lied eine Weile zu, bevor sie begannen, es nachzuahmen. Ihre spöttischen Stimmen besudelten die Magie der M e lodie. Nach sieben Strophen verstummte Kehala und senkte den Kopf. Nocona spürte, wie die letzte Stärke in ihr zerbrach wie eine dü n ne, von Frost verbrannte Blüte. Seine Hände wa n den sich in den Fesseln. Er zog und zerrte, nur um zu erkennen, dass sie sich u n möglich lockern ließen.
Nach einer gefühlten Ewigkeit fiel ihm ein umgestürzter Rotholzbaum ins Auge. Der tote Gigant hatte die Erde aufgerissen und einen dünnen, scharfen Stein zut age gefördert. Sein Herz klopfte. Er musste ihn b e kommen. Er musste.
Nocona ließ sich zu r Seite fallen, griff nach dem Stein und schob ihn zwischen seine zusammengebundenen Hände. Hatten sie gesehen, dass er ihn genommen hatte? Hatten sie ihn durchschaut? Der Hüne zerrte ihn mit einem brutalen Ruck auf die Beine . Sein e Lippen zogen sich zu einem Grinsen zurück, in dem ein widerwärtiges Verspr e chen lag.
Nocona umschloss den Stein wie einen kostbaren Schatz. Scharf und hart schmiegte er sich an seine Haut. Heute noch, das schwor er sich, würde er Kehala befreien. Heute Nacht würden nicht sie es sein, die tausend Tode starben.
Makah, 2011
S
chlagartig wurde er wach, kippte nach vorn und kollidierte mit dem Handschuhfach. Schmerzen brachen auf. Am Kiefer, in den Rippen, an Hüfte und Rücken. Sie breiteten sich aus, wuchsen und loderten, bis sein Körper in Flammen stand. Makah sah Blut an seinen Händen. Die Gelenke waren aufg e schürft … Wunden wie von rauen Seilen, mit denen er gefe s selt worden war. In seinem Kopf wüteten scharfe Klauen und zerhackten sein Gehirn. Übe l keit bahnte sich ihren Weg durch seine Kehle.
„Halt an! Sofort!“
George gehorchte. Makah riss die Wagentür auf, stolperte ein paar Schritte, sackte in die Knie und übergab sich in den Matsch. Einmal, zweimal, bis sein Magen nichts mehr hergab und die Krämpfe langsam abflauten. Hust end rollte er sich auf den Rücken. Über ihm spannte sich ein klarer Himmel. Wasserblau. Die Sonne schien ihm ins Gesicht. Unter der Kleidung war sein Körper übersät von Wunden. Jedes Zeitgefühl ging ihm verloren. Jahrhunderte, Sekunden, Augenbl i cke. Ganze Äonen.
„Was ist los? Hey, sag was, Makah.“ George packte ihn unter den A r men und hievte ihn in eine sitzende Position. Blut tropfte von seinen aufgeschürften Handgelenken, sickerte durch sein T-Shirt und klebte von innen an seiner Jeans. Wunden aus einer anderen Zeit, einem and e ren Leben. Visionen konnten stark sein, so stark, dass sie Menschen in den Wahnsinn trieben. Aber Verletzungen, die von einer Welt in die andere transferiert wurden? Das war nicht gut. Überhaupt nicht gut. Es bedeut e te, dass ihm die Kontrolle entglitten war.
„Um Himmels willen.“ George packte seine Arme und starrte auf die Male. Er sah sein blutiges T-Shirt, die wachsenden, roten Flecken auf der Hose und den Schnitt an seinem Hals, der brannte wie Feuer. „Wo kommt das plötzlich her? Was hast du gemacht, Junge? Eben war noch nichts da, und dann … aber das geht doch gar nicht!“
Makah antwortete nicht. Er schob George beiseite, stand auf und ju s tierte mit ausgestreckten Armen sein Gleichgewicht aus. Alle Schmerzen, die Nocona gefühlt hatte, tobten in seinem Fleisch und in seiner Seele. Er musste allein sein. Und zurückkehren. Kehala befreien, sich selbst befreien.
„Bring mich nach Hause!“
„Du musst zu einem Arzt. Das sieht ja schrecklich aus.“
„Gar nichts muss ich. Bring mich einfach nur nach Hause.“
Makah stieg in den Wagen und biss die Zähne zusammen. Egal , wie er sich hinsetzte, die Schmerzen waren kaum auszuhalten. Gab es irgende i nen Fleck an seinem Körper, der nicht versehrt war? Bilder zuckten durch seinen Kopf,
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