Nocona: Eine Liebe stärker als Raum und Zeit
die Plains ziehen und niemals ankommen. Nur einmal war es schlimm, gehen zu müssen. Als meine Großeltern spürten, dass sie schwach wurden, blieben sie allein im Sommerlager zurück, um zu sterben. Der Schmerz war mir fremd, weil ich lange keinen gespürt hatte. Und erst dieser Schmerz erinnerte mich daran, dass ich im Inneren nach wie vor weiß war. Ich konnte die beiden Alten nicht lächelnd verabschieden, wie es die anderen taten. Ich konnte ihnen keine gute Reise wünschen und so tun, als wäre das Sterben genauso natürlich wie das Leben. Mir kamen die Worte unseres Pfaffen in den Sinn, die nur dazu taugten, den Menschen Angst vor dem Leben und vor dem Tod zu machen. Ich erinnerte mich an all die Dinge, die man mir eingebläut hatte, und sie waren wie Parasiten, die sich in meinem Geist festfraßen. Irgendwann im Sommer kamen sie schließlich in unser Dorf. Ein großer Trupp Soldaten und Händler. Zuerst begegnete man uns freundlich. Wir tauschten und handelten, bestritten ein Pferderennen und saßen am Feuer. Bis sie klarstellten, warum sie gekommen waren. Sie haben nach uns gesucht, Cynthia. Sie suchten die Kinder der Parkers, um sie zurückzuholen. Und sie tun es immer noch.“
Der Schock ließ sie erstarren. So sehr sie das Licht ihrer Freude festgehalten hatte, entglitt es ihr so plötzlich, als hätte jemand einen Schatten über ihre Seele geworfen. Sie hatte es immer geahnt, es immer gespürt, aber zu hören, dass ihre Befürchtungen der Wirklichkeit entsprachen, war wie ein Faustschlag ins Gesicht. Ihr Körper fühlte sich seltsam an, leer und kalt, aber sie hörte weiter zu.
„Die Soldaten sagten, dass sie mich mitnehmen müssten“, fuhr John fort. „Es sei ihre Pflicht, mich in meine angestammte Welt zurückzubringen, und wenn man mich nicht gehen ließe, würde man Gewalt anwenden. Ich schnappte etwas von einer Geiselnahme auf, aber damals begriff ich noch nicht, dass man mich damit meinte. Ich fühlte mich weder als Geisel noch als Entführter, und ich verstand auch nicht, dass meine Existenz die Soldaten nach dem Gesetz der Weißen dazu berechtigte, das Dorf dem Erdboden gleichzumachen.“
Mitleid krampfte ihr Herz zusammen. Stumm nahm sie Johns Hand in die ihre und betrachtete seine Finger. Als sie sie das letzte Mal gehalten hatte, waren sie klein und pummelig gewesen. Jetzt waren sie fast doppelt so lang und so dick wie ihre, doch gewisse Dinge hatten sich nicht geändert und waren unumstößlich. Er würde immer ihr kleiner Bruder sein, und sie immer seine große Schwester.
„Keiner kennt die Wege der Nunumu“, sagte sie sanft. „Keiner findet uns, wenn wir nicht gefunden werden wollen. Unsere Krieger töten lautlos und verschwinden schnell wie Gedanken.
Er schüttelte nur matt den Kopf. „Dasselbe sagten wir auch über uns. Inzwischen müssen wir es anders formulieren. Einst kannte niemand die Wege der Kiowa. Einst fand uns niemand, wenn wir nicht gefunden werden wollten. Aber jetzt? Jetzt sind wir wie Hirsche, die voller Zecken hängen. Stark und schnell, aber mit jedem Tag wird uns mehr Blut ausgesaugt. Ich wollte damals nicht gehen, Naduah. Aber unser Dorf war klein und die Soldaten zahlreich. Mein Vater sagte mir, dass diese Männer alles tun würden, um mich meiner Familie zu entreißen. Er sagte, dass er mich nicht gehen lassen will und dass er lieber bis zum letzten Blutstropfen kämpfen würde, als mich freizugeben. Aber weil er nicht über so viel Leben entscheiden wollte, überließ er es mir. Er stellte mich vor die schwierigste und zugleich klarste Entscheidung meines Lebens. Ich liebte meine Familie, und ich sah die Gewehre und die Gesichter der Soldaten, die danach brannten, zu kämpfen. Also redete ich ein letztes Mal mit meinen Eltern, verabschiedete mich und ging mit den Weißen.“
„Wie konntest du das tun?“ Naduahs Kehle zog sich zusammen, als hätte jemand eine Faust darum geschlossen und zöge sie enger und enger zusammen. Ihre Worte kamen nur als Krächzen heraus. „Woher nahmst du die Kraft?“
„Sie hätten sie alle getötet“, gab er so ruppig zurück, dass sie zusammenzuckte. „Was hättest du an meiner Stelle getan? So oder so war mein Leben bei den Kiowa zu Ende.“
„Ich hätte dasselbe getan.“ Die Faust schnürte ihr den Atem ab, sodass sie nur flüstern konnte. „Genau dasselbe, auch wenn es meinen Tod bedeuten würde.“
„Ich bin gestorben. Oh ja, viele Male. Aber gebrochen haben sie mich nie.“
Naduah versuchte, ruhig zu atmen.
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