Nocona: Eine Liebe stärker als Raum und Zeit
seiner Seite lief. „Ich freue mich, dich zu sehen.“
„Das glaube ich dir. Aber ich weiß, wie dir zumute ist. Ich habe selbst so empfunden. Ich fühlte mich zerrissen. Weder in der einen Welt noch in der anderen. Obwohl ich ganz und gar Kiowa sein wollte, war da immer etwas, das fehlte. Und dafür hasste ich mich. Ich hasste meine hellen Augen, mein Haar, meine Haut. All die Dinge, die man mir als Kind eingetrichtert hatte und die mich ewig verfolgten.“
„Ja“, antwortete sie leise. Das waren ihre Worte, ihre Gedanken. Großer Geist, wie seltsam sie sich fühlte. Die vertraute Wirklichkeit verwandelte sich in eine Welt, in der nichts so war, wie es sein sollte. Die Pferde grasten nicht mehr, sondern hoben ihre Köpfe und starrten zu ihnen herüber. Die Hunde kämpften nur noch lustlos miteinander. Kinder, die sonst lärmten und spielten, saßen still an den Seiten ihrer Eltern. Selbst die Sonne versteckte sich hinter einem Schleier aus Nebel, kaum mehr als eine fahle, silberne Scheibe. Der Geruch nach Kampf lag in der Luft.
Im Zelt angekommen schichtete sie Holz zu einer Pyramide auf, legte getrockneten Bisondung darunter und zündete ihn an.
„Er ist also dein Mann.“ John ließ sich auf die Felle nieder und verschränkte die Arme im Schoß. „Meine Schwester hat geheiratet. Ist das zu fassen? Die Zeit rast vorbei wie im Flug.“
„Nach so vielen Jahren kommst du gerade heute. Am Tag nach meiner Hochzeit. Ist das nicht sonderbar?“
John zuckte verlegen mit den Schultern. Seine Finger tasteten herum und schienen verzweifelt nach Halt zu suchen, bis sie sich bebend ineinander verschränkten. Dieses Zeichen seines Unwohlseins brachte den verlorenen Jungen endgültig zum Vorschein und öffnete ihr ohne ohnehin von Liebe geflutetes Herz noch weiter, bis es sich anfühlte, als strahlte es heller und wärmer als die Sonne. Er saß wirklich vor ihr. Ihr verletzlicher, unschuldiger Bruder, der ihr immer so viel bedeutet hatte und es noch immer tat. Nur war er jetzt ein Mann, der ihren Schutz längst nicht mehr nötig hatte.
„Ich freue mich für dich, dass du einen Mann gefunden hast.“ Seine Stimme klang weich und gedankenverloren. „Er ist wild und schön. Genauso wie du. Eure Kinder werden wahre Augenweiden sein. Umso schwerer fällt mir das, was ich dir sagen muss.“
Sie setzte sich und zog eine Decke um ihre Schultern. Was immer John ihr sagen wollte, sie würde nicht zulassen, dass es das Licht ihrer Freude verdunkelte. Noconas Duft haftete an der Wolle und füllte ihren Bauch mit flatternden Kolibris.
„Was willst du von mir, kleiner Bruder? Was ist dir geschehen? Haben sie dich weggeholt?“
Er sagte einen Moment lang nichts, sah sich um und betrachtete das vom Feuer erhellte Zelt. Der Schmerz in seinem Gesicht beantwortete Naduahs Frage. Es quälte ihn, wieder in einem Tipi zu sitzen. Es tat ihm weh, die Wärme der Flammen zu spüren, die Lichtspiele auf Leder und Fellen zu sehen und den Geruch einzuatmen. Sie hatten ihm das Leben geraubt, das er geliebt hatte. Ihre Albträume waren Johns Realität.
„Was ist passiert?“, flüsterte sie. „Bitte sag es mir.“
„Man hat mich geliebt.“ Jedes Wort kam mühsam über seine Lippen. Wie der matte Hauch eines kraftlosen Windes. „Sie haben alles für mich getan. Ich dachte bald nicht mehr an Lucy und an Silas. Ich dachte nicht mehr an Großmutter oder an unsere dreckige Hütte. Ich dachte auch nicht mehr an die zerbrochenen Pflüge, die kaum gegen das Büffelgras ankamen, oder an den Hunger und an den Pfaffen, der meinem Vater jeden Sonntag beschwor, mir noch viel öfter den Hintern zu versohlen. Ja, ich war glücklich. Man ließ mich essen, soviel ich wollte. Man gab mir ein Pferd, auf dem ich durch die Plains reiten konnte. Man brachte mir bei, zu jagen und zu kämpfen. Ich erfuhr, was Glück bedeutete. Mein wildes Leben stieg mir so zu Kopf, dass ich meine weißen Wurzeln verabscheute und nichts mehr von ihnen wissen wollte. Es gab nichts Schöneres für mich, als nach einem langen Sommer alles zusammenzupacken und ins Winterlager zu ziehen.“
Johns Blick ging sehnsüchtig ins Leere. Sie drängte ihn nicht, auch wenn es schwerfiel, und ließ ihm alle Zeit, die er brauchte. Dann, die Hände ausgestreckt, um sie am Feuer zu wärmen, fuhr er endlich fort: „Ich sehe und höre sie noch immer. Die Travois, die fröhlichen Stimmen, das Bellen der Hunde und das Klimpern der Messingkegel. Damals wünschte ich mir, wir könnten ewig durch
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