Nocona: Eine Liebe stärker als Raum und Zeit
Huka hatte ihr beigebracht, schmerzhafte Gedanken nach innen zu kehren und einen Panzer zu errichten. Ein Schutz vor allen Dingen, die von außerhalb kamen und danach trachteten, das innere Gleichgewicht zu zerstören. Oft hatte sie sich auf diese Weise zurückgezogen. Doch diesmal wirkte es nicht halb so gut wie sonst.
„Hörst du mir noch zu, Cyn … ich meine, Naduah?“
„Ja“, flüsterte sie.
„Dann höre auch den Rest meiner Geschichte.“
„Rede“, krächzte sie. „Erzähl mir alles.“
„Ich war zwölf Jahre, als sie mich zwangen, in meine angestammte Welt zurückzukehren. Dort lernte ich zum zweiten Mal in meinem Leben, was Befehle bedeuteten, und das, nachdem mir jahrelang niemand etwas befohlen hatte. Ich fand mich in einer Wirklichkeit wieder, die ich nicht verstand. Menschen, die man als meine Familie bezeichnete, schlugen und verhöhnten mich. Sie stopften mir Seife in den Mund, wenn ich in der Sprache meines Volkes redete. Sie verkauften mein Pferd, damit ich nicht auf seinem Rücken fliehen konnte, und als ich mein Glück auf einem anderen Tier versuchte, steckten sie mich tagelang in eine Besenkammer.
Sie dachten, dass Hunger und Durst mich früher oder später fügsam machen würden. Sie sprachen von meiner reinen Seele, die gerettet werden musste, redeten von grausamen Dingen, die ich gewiss durchgemacht hätte, und von der Verdorbenheit, die man mir austreiben müsse, um wieder einen Menschen aus mir zu machen. Alles in allem war ich für sie ein wildes Tier, dessen Willen gebrochen werden musste.
Man ließ mich viele Tage in der Kammer hocken, aber es brachte ihnen gar nichts. In meinen Jahren bei den Kiowa hatte ich gelernt, über dem Körperlichen zu stehen. Ich kauerte mich also in einer Ecke zusammen und ließ meinen Geist zurück in die Plains reisen. Wie bei der Visionssuche zwang ich Hunger, Schmerz und Durst nieder, bis all das gleichgültig wurde. Erst, als man mir drohte, Soldaten zum Dorf meiner Familie zu schicken, gab ich auf.
Am nächsten Vormittag fand ich mich mit anderen Kindern in der Schule wieder. Es war unglaublich frustrierend. Während ich sonst geschlafen, gegessen und gejagt habe, wann immer mir danach war, bestand mein Tag nun aus Zwängen. Ganz zu schweigen davon, dass es die Kinder in der Schule es liebten, mich zu verprügeln.“
„Kiowa sind gute Kämpfer!“, knurrte Naduah. „Warum hast du ihnen nicht die Nasen plattgehauen?“
„Oh, das habe ich. Aber wenn sich zehn Jungen gleichzeitig auf dich stürzen, hat selbst ein guter Kämpfer das Nachsehen. Immerhin haben sie bitter für ihren Spott bezahlt. Aber gewonnen haben sie am Ende doch.“
John warf ihr ein liebevolles Lächeln zu, das sie mit gebleckten Zähnen erwiderte. „Oh ja. So kenne ich meine Schwester. Wild entschlossen, ihren kleinen Bruder zu verteidigen.“
„Ich wünschte, ich wäre dabei gewesen. Diese Dummköpfe hätte ich das Fürchten gelehrt. Ich hätte mir Ketten aus ihren Zähnen und Ohren gemacht.“
„Daran zweifle ich nicht. Aber lass mich weitererzählen. Wie du dir denken kannst, war ich mehr als unzufrieden mit meinem neuen, alten Leben. Vormittags Schule. Danach Arbeit auf dem Feld. Drei Gebete am Tag und am Sonntag ein endloser Gottesdienst in der Kirche. Die meisten Leute starrten mich an, wie man eine besonders fette Tarantel anstarren würde. Aber mitleidige Blicke verabscheute ich am meisten. Niemand glaubte mir, dass ich glücklich gewesen war. Wurde meine Familie gefragt, wie mein Leben bei den Wilden gewesen sei, erzählten sie von unsagbaren Gräueltaten und Quälereien. Die Leute waren nach solchen Schilderungen zufriedengestellt, denn mit ihnen konnten sie leichter leben als mit dem Gedanken, ich hätte dieses barbarische Dasein genossen. Ich gab ihnen das Gefühl, mich von meiner heidnischen Verdorbenheit geheilt zu haben. Doch in Wahrheit wartete ich nur darauf, größer und stärker zu werden. Und eines Tages, als niemand mehr damit rechnete, befreite ich mich.“
Unheilvolle Stille erfüllte das Zelt, so schwer, dann man eine Axt hätte nehmen können, um sie zu zerhacken. Noch immer, selbst nach all den Jahren des Getrenntseins, las sie in ihrem Bruder wie andere in einem Buch. Die Wahrheit in seinen Augen erschreckte sie nur aus einem Grund. Die Konsequenzen für seine Tat waren schwer.
„Du hast sie getötet.“
„Ja“, antwortete er gleichmütig. „Meine ganze Familie. Ich habe sie getötet, als sie glaubten, mich geheilt zu haben.
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