Nocona: Eine Liebe stärker als Raum und Zeit
Niemals hätten sie mich gehen lassen.“
„Dann sucht man dich jetzt wegen Mord.“
John hob matt die Schultern und ließ sie wieder fallen. „Man verfolgt mich, weil ich es gewagt habe, mich zu befreien.“
„Dann suchst du bei uns Schutz?“
„Nein.“ Er holte tief Luft. Die Art, wie er seinen Atem in einem Seufzen wieder ausstieß, jagte ihr kalte Schauder über den Rücken. Was immer die Last war, die er mit sich herumschleppte, er hatte sie bisher verschwiegen. Und jetzt war er kurz davor, sie herauszulassen.
„Was willst du?“, fuhr sie ihn an, wilder als beabsichtigt. Doch jeder Augenblick, in dem er schwieg, steigerte ihr Unwohlsein.
„Ich will, dass du mit mir kommst.“
Naduah stieß ein Schnaufen aus. Unsinn. Sie musste sich verhört haben. Das konnte er nicht von ihr verlangen. Nicht nach allem, was er durchgemacht hatte.
Doch seine Stimme war fest und fordernd, als er fortfuhr: „Gemeinsam werden wir Menschen finden, die uns zuhören. Menschen, die die Wahrheit erkennen, wenn man sie ihnen zeigt. Menschen, die nicht blind irgendwelchen Lügen hinterherhecheln, sondern beide Seiten zu Wort kommen lassen.“
„Mit dir gehen?“ So hatte sie sich das letzte Mal gefühlt, als sie nach dem Massaker an ihrer Familie in Hukas Zelt aufgewacht war. „Wie kannst du glauben, dass ich meine Familie in Stich lasse? Mein Volk? Ich habe gestern erst geheiratet, John. Einen Mann, den ich über alles liebe, zu dem du mir gerade noch gratuliert hast. Hast du das schon vergessen?“
„Du wirst niemals zu ihnen gehören.“ Sein Blick war plötzlich ebenso barsch wie seine Stimme. „Sie geben dir vielleicht das Gefühl, ja. So war es auch bei mir. Aber irgendwann werden die Weißen kommen und dann wirst du merken, dass du immer noch ein Feind dieses Volkes bist. Ein Mensch aus einer anderen Welt, der seinesgleichen anlockt. Sie werden dich mitnehmen. Sie werden dein Dorf zerstören und es wird sie nicht mehr kümmern, als wenn sie ein Insekt zertreten hätten. Komm mit mir, Schwester! Wir gehen zusammen dorthin, wo man den Namen Parker nicht kennt. Wir werden mit allen reden, die bereit sind, uns anzuhören. Wir werden etwas bewirken! Viele weiße Menschen hassen das rote Volk nur, weil sie es nicht kennen. Weil sie von Anfang an mit Lügen in die Irre geführt werden. Wir könnten ihnen von der Wahrheit berichten.“
„Nein!“ Tränen schossen in ihre Augen. Niemals würde sie fortgehen von Nocona. Weg von ihren Eltern. Weg von allem, was für sie Heimat und Geborgenheit bedeutete. So sehr sie John liebte, so froh sie war, ihn wiederzuhaben, machte es sie unsagbar wütend, dass er dergleichen von ihr verlangte.
„Ich komme nicht mit. Hier ist mein Zuhause.“
„Schwester …“ Er hob ihre Hand an seine Lippen und küsste sie. Sie wollte sich seinem Griff entwinden, doch die Faust um ihre Kehle drückte so fest zu, dass ihr Körper wie gelähmt war. „Ich sehe, dass ich dir wehtue. Ich sehe, dass du wütend auf mich bist. Aber ich meine es nur gut mit dir. Und mit deinem Volk.“
„Ich weiß.“ Sie würgte die beiden Worte unter Qualen hinaus. „Ich weiß, John! Aber ich kann nicht mit dir gehen. Dein Weg ist nicht meiner. Bitte verstehe das. Ich bin verheiratet. Vielleicht trage ich seit letzter Nacht ein Kind in mir. Ich kann das alles nicht aufgeben.“
Er sagte nichts. Ein paar Mal nickte er, seufzte und ließ ihre Hand wieder frei. Nachdem die Stille zu drückend geworden war, um sie zu ertragen, ergriff Naduah wieder das Wort.
„Weißt du, ob Rachel damals überlebt hat? Und ihre Eltern?“
„Ihre Eltern wurden getötet“, antwortete er tonlos. „Rachel hat man entführt, genauso wie uns, aber nach ein paar Jahren kamen Händler, die sie freikauften.“
„Wie geht es ihr?“
„Nun ja.“ Johns Blick wurde giftig und bitter wie Galle, als hätte er nur darauf gewartet, ihr diese Geschichte erzählen zu können. „Ich weiß nur, dass sie nicht so viel Glück hatte wie wir. Der Mann, an den sie geriet, quälte sie auf abscheuliche Weise. Und als sie ein Kind von ihm bekam, musste das arme Ding dieselben Schmerzen ertragen. Es starb, noch bevor es seinen ersten Sommer erlebte. Rachel war in einem jämmerlichen Zustand, als die Händler sie freikauften. Die Geschichten, die sie erzählt, bestätigt die Meinung der Leute. Willst du wirklich, dass sich Rachels Albtraum in der Welt verbreitet, während du schweigst? Alle werden denken, dass jeder in unserem Volk so grausam ist
Weitere Kostenlose Bücher