Nocona: Eine Liebe stärker als Raum und Zeit
vertraut, auch wenn es e r schreckend und fremdartig war. Sie lag in einem Zimmer, nicht in einem Zelt. In einem Bett, nicht auf dem fellbedeckten Boden.
Wo war sie? Was war passiert?
Eine Person stand vor einem großen Fenster. Einde u tig ein Fenster, ja. Mit Glas davor. Sie kannte so etwas aus dem Fort, und von woanders her.
Wer war sie? Sie wusste nicht, ob sie träumte oder wach war. Ein durchsichtiger Beutel hing neben ihr, daran hing ein Schlauch, der zu ihrem Handrücken führte. Dinge standen neben ihr, die ihr zuerst a b surd, dann vertraut erschienen. Ein Rollschrank. Ein Monitor. Eine Fernbedienung.
Wie sonderbar.
Nein, nicht sonderbar. Sie befand sich in einem Krankenhaus der m o dernen Zeit. Hier hieß sie nicht Naduah, sondern Sara, und sie war eine Nomadin zwischen den Zeiten. An das Fensterglas lehnte sich ein Mann, die Hände halb in die Taschen seiner Jeans g e steckt. Er trug ein weißes T-Shirt, das wunderbar mit seiner hellbraunen Haut kontrastierte und sich um die Muskeln seiner Oberarme schmiegte. Um seine Hüfte hing ein braunes Flanellhemd. Sein schwarzblaues Haar war locker im Nacken zusammenzugebunden, und das Licht des Winte r tages schimmerte auf seinem ernsten, formvollendeten Profil, während er so angestrengt nachdachte, dass er nicht einmal bemerkte, wie sie ihn anstarrte.
So versunken war er in seiner Gedankenwelt, dass sie am liebsten vo r gesprungen wäre, um seinem unnahbar stolzen Gesicht ein Lächeln zu entlo c ken. Makah. Er gähnte. Sie konnte seine Müdigkeit bis hierher spüren . W ie eine dichte, warme, schläfrige Aura, die sie umhüllen wol l te. Schneeflocken tanzten hinter dem Glas. Wirbelten im Wind vor ka h len Bäumen. So wie an dem Tag, als sie sich kennengelernt hatten. Nein, wiedergefunden.
„Makah.“ Ihre Lippen bewegten sich, doch kein Ton kam über ihre Lippen.
Nichts geschah. Sie lag da. Hilflos und a usgeliefert. Makahs Blick sen k te sich. Lange schwarze Wimpern warfen fedrige Schatten auf seine Wangen. Dann wandte er den Kopf, sah hin zur Tür. Die Haut um sein rec h tes Auge herum war blau verfärbt.
Der Nebelstrudel begann , an ihr zu ziehen. Sie versank. Das helle Licht schwand, die Gestalt, die auf sie zukam, löste sich auf. Sara spürte das Echo einer Berührung. Fern, so fern. Wie ein Schatten aus alter Zeit.
„Hörst du mich? Sara! Sara!“
Sie wollte antworten, aber die Stimme verschwand im Nebel.
Naduah, 1844
N
aduah konnte nicht fassen, dass Nocona zum zweiten Mal gegen die Zeltwand stolperte, anstatt durch den Eingang zu schlüpfen. Er war betrunken. Er war ta t sächlich berauscht wie ein Kesselflicker.
„Wie oft bist du schon hier durchgegangen ? Hundert Mal? Tausend Mal?“
„Ungefähr“, brummte er. „Aber vorher war der Eingang viel größer.“
Seine Stimme klang wie eine zu lang gewässerte Sehne. Es war ewig her, ewig und noch länger, dass sie sich mit einem betrunkenen Mann hatte abplagen müssen. Erst beim dritten Versuch schaffte es Nocona endlich, durch den Eingang zu schlüpfen. Die Tatsache, dass er traditi o nell rechtsherum gehen musste, war ihm entweder egal oder das Dum m heitswasser narrte sein Empfinden für die richtige Richtung. Tatsächlich stolperte er zwei Schritte nach links, ging in die Knie und kippte zur Seite wie ein erschossener Bär.
„Mein Kopf platzt.“ Mit beiden Händen hielt er sich den Schädel. „Mir ist schwindlig. Alles dreht sich. Sterbe ich?“
„Nein.“ Naduah wusste nicht, ob sie lachen oder weinen sollte. Der kalte Hauch des Todes saß ihr nach wie vor im Nacken. Nichts hatte sich so angefühlt, wie sie es sich ausgemalt hatte. Es hatte sich eigen t lich gar nicht angefühlt. Zumindest nicht während des Kampfes. Sie hatte keine Gesichter gesehen, keine Menschen. Nur charakterlose, le b lose Gestalten, die es niederzustrecken galt, um sich selbst und das Leben derer, die sie liebte, zu schützen. Erst nach der Schlacht waren die G e fühle gekommen. Entsetzen, Fassungslosigkeit, durchzogen von Euph o rie. Der Wunsch, sich in den nächsten Kampf zu stürzen und seine Krä f te zu entfesseln wie ein Gewittersturm über den Plains. Und die mit diesem Wunsch verwobene Hoffnung, niemals wi e der kämpfen und töten zu müssen. Sie hatte das Leben vieler Männer beendet. Gra u samer Männer, ja, aber jeder von ihnen erzählte eine G e schichte, die sie mit ihren Pfeilen und ihren Klingen beendet hatte. Ein Treffer ins Herz, einer ins Bein. Ein schneller Tod durch
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