Nocona: Eine Liebe stärker als Raum und Zeit
heftete sie ihren Blick auf Noconas offen h in abfallendes Haar. Glänzend und schwer lag es auf dem Wolfspelz, ohne jede Zierde, nur versehen mit zwei geflochtenen Strähnen, die am Hinterkopf mit einem Lederband zusammengehalten wurden. In nicht mehr ferner Zukunft würden diese Haare aussehen wie der Pelz, auf dem sie lagen. Silbergrau. Gezeichnet vom Fluss der Jahre. Die winzigen Finger seiner Enkel würden mit diesem Haar spielen, wä h rend er ihnen von seiner Jugend erzählte. Von der Großen Jagd, die er gemeinsam mit ihr bestritten hatte. Von dem gewa l tigen Bullen und der furchtlosen Kriegerin, von der Kanufahrt auf dem Winterfluss und all den Kämpfen, die ihrer beider Leben erfüllten.
Die Melancholie, die Naduah überfiel, schmeckte bittersüß wie schwarze Fussbeeren. Sie fuhren den Strom hinunter, bis der Himmel über ihnen glühte und den Schnee in Blut tränkte. Als ihr Kanu wieder am heimischen Ufer anlegte, spannte sich über ihnen das Lapislazuliblau der Nacht, von funkelnden Wintersternen gesprenkelt . Mondschein floss über das Dorf und ließ jedes Zelt so scharf wie am Tag erscheinen.
Quanah war längst eingeschlafen, und er wachte nicht einmal auf, als sie sich in das Festzelt setzten, um Mahtowins Geschichten zuzuhören. Ohne auf die vielen Blicke zu achten, nahm Naduah das Gesicht ihres Mannes zwischen beide Hände und küsste ihn. Neid knisterte in der feuerwarmen Luft. So manche Frau hatte die Hoffnung noch nicht au f gegeben, dass Nocona von seinem Recht Gebrauch machen würde und weitere Frauen heiratete. Der kleine, schadenfrohe Dämon in ihrem Inneren sorgte dafür, dass sie ihren Mann noch inniger küsste, ihre Hand unter sein Hemd gleiten ließ und über seine von Gänsehaut überzogene Brust strich.
„Dir ist kalt.“ Ihre Finger neckten seine kleinen, harten Brustwarzen. „Ich könnte dich wärmen, aber das würde einigen hier nicht gefallen.“
Mit spitzbübischem Grinsen rieb er seine Nase an ihrer. „Sag, mein Blauauge. Tust du das gerade, um die armen Täubchen dort drüben zu ärgern?“
Ertappt zog Naduah ihre Hand unter seinem Hemd hervor und spitzte die Lippen, was Nocona zum Lachen brachte.
„Dachte ich es mir doch. Kein Feind ist so schlimm wie eine eifersüc h tige Frau. Merk dir das, mein Blauauge. Ich will nicht irgendwann von der Jagd zurückkehren und dich aufgeknüpft an einem Baum finden. Oder mit Honig eingeschmiert und gefesselt auf einem Ame i senhaufen.“
Naduah schnaufte. A n Noconas Brust g ekuschelt , die sich beruhigend hob und senkte, mit Quanah auf ihrem Arm und umgeben von Me n schen, die wie sie zwischen Müdigkeit und Neugier auf Mahtowins G e schichten schwankten, vergaß sie ihre niederen Anwandlungen und ve r sank in der Behaglichkeit der Nacht. Rechts von ihr saß Kehala neben Makamnaya, ein Lächeln im Gesicht, das Naduahs Vermutung bestäti g te. Sie fand Gefallen an dem sanften, gemütlichen Mann. Icabu wieder um zog eine säuerliche Miene und würdigte Maka m naya keines Blickes.
Als die Hand des dicken Kriegers Kehalas Schulter tätschelte, wurden nicht nur Noconas Augen groß. Das Mädchen erwiderte die Annäh e rung, indem sie sich an Makamnayas gewaltige Brust kuschelte. Der Blick des Kri e gers wurde glasig. Icabu verfolgte die Szene mit mahlendem Kiefer und gift i ger Miene.
„Er hat sie gefragt.“ Nocona gab ein verblüfftes Schnaufen von sich. „Und meine Schwester hat J a gesagt.“
„Das hat sie wohl.“ Naduah rekelte sich zufrieden. Dieser Winter war eine gute Zeit. Einsame Herzen fanden Erleichterung, niemand musste Hunger leiden. Hunderte Rohlederschachteln waren gefüllt mit Pemm i kan und getrocknetem Obst, es gab Unmengen an Honig, gerösteten Nüssen, Talg zum Schmelzen, Trockenfleisch, eingelegten Pflaumen und Kürbissen. Ruhe hielt Einkehr in den Seelen der Menschen. Niemand dachte an die Jagd oder an den Krieg. Dem Winter wurde die Stille gela s sen, für die er von Natur aus bestimmt war. Nocona streichelte ihr Haar und küsste ihre Wange. Quanah schlief friedlich in ihren Armen.
„Hört ihr sie?“ Mahtowin legte eine Hand an ihr Ohr. „Hört ihr ihren Ruf, mit dem sie die Toten locken?“
Jeder Anwesende lauschte angespannt.
„Die Geister der Verstorbenen brauchen sich nicht zu fürchten, denn Mutter Eule und Vater Kojote werden sie an den Händen nehmen und in das Tal jenseits des Sonnenuntergangs führen, dorthin, wo der So m mer niemals endet und Schmerz und Leid nur ferne Erinnerungen
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