Nocona: Eine Liebe stärker als Raum und Zeit
sind.“
Ein niemals endender Sommer? Naduah gähnte und überlegte, ob sie diesen Gedanken reizvoll fand. Nein, eher nicht. Sie mochte den Winter. Gestern hatte sie mit Nocona und den Kriegern Lacrosse gespielt, von Kopf bis Fuß weiß angepinselt und nur mit einem Schurz und einem Lederstreifen bekleidet , den sie sich um die Brust gewickelt hatte. Ang e sichts ihrer geisterhaften Erscheinung war Quanah in markerschütter n des Gebrüll ausgebrochen, bis er begriffen hatte, dass es sich bei dem unheimlichen Geschöpf um keinen Dämon, sondern um seine Mutter handelte.
Es waren gute, behagliche Monate, zumindest, sofern die Vorräte so üppig waren wie in diesem Jahr. Man brauchte den Winter, um die Wärme des Frühlings genießen zu können. Und man brauchte die fli r rende Hitze und das verbrannte Gras im Sommer, um die Schönheit der schneebedeckten Prärie zu erkennen.
Der Abend im Festzelt verging wie im Flug. Viel zu schnell vergingen Stunden, Tage, Monde. Und viel zu schnell verging auch der erste Wi n ter, den sie als Familie verbrachten.
Naduah, 1847
U
nwillig, die lieb gewonnene Gemeinsamkeit allzu schnell aufzugeben, blieben die Wasps auch dann noch im Lager der Quohadis, als die Bäume frisches Grün zeigten und Blumen das Gras schmückten. Naduah freute es, denn so konnte sie den Frü h ling genießen, ohne Mahto und Huka vermissen zu müssen.
An einem herrlichen Morgen, als sie mit Nocona und i h rem Sohn im Fluss badete, stürmten zwei Kundschafter auf schweißbedeckten Pfe r den in das Dorf und fielen erschöpft von den Rücken ihrer Tiere.
„Ein Treck“, riefen sie. „Zwei Dutzend Planwagen, viele Pfe r de und Rinder, viele Waffen. Sie ziehen von West nach Ost.“
„Von West nach Ost?“ Nocona hatte sich, ebenso wie sie, no t dürftig eine Dec ke um die Hüften gewickelt . „W a rum in diese Richtung?“
„Vielleicht haben sie ihr Ziel gefunden und wollen anderen den Weg weisen.“ Naduah presste Quanah mit einer Hand an ihre Brust und ve r suchte mit der anderen, die Decke festzuhalten. „Wenn das passiert, kommt bald eine ganze Flut.“
„Sie dürfen niemals den Osten erreichen.“ In Noconas Stimme lag keine Leidenschaft. In ihm brannte nicht mehr das Feuer des Kriegers, der nach dem Kampf dürstet, sondern die Sorge eines Ehemanns und Vaters. Wie ein klarer Himmel, der von Wolken bedeckt wurde, ve r schwand der Sanftmut aus seinen Augen. Naduah fröstelte. Vater oder nicht, Nocona würde sein Leben stets hinter das ihre zurückstellen. Das L e ben eines Lanzenträgers gehörte dem Volk. Er existierte, um es zu schützen.
Seine Hand legte sich auf ihre Schulter. „Bleib bei unserem Sohn, Naduah.“
„Aber ich will mit euch kämpfen. “ Ihr Herz hämmerte wild gegen den Brustkorb. „ Ich ertrage es nicht, wenn …“
„Nein!“ Noconas Stimme war scharf, doch er milderte ihren Klang, indem er zärtlich über ihr Haar strich. Sacht berührten seine Lippen ihre Stirn. „Jedes Kind braucht seine Mutter. Du musst bei ihm bleiben.“
„Und jedes Kind braucht seinen Vater.“ Sie wollte t oben und fluchen und die Haarlippen mit ihren Zähnen zerreißen, weil sie ihre Welt wieder und wieder zu überschwemmen drohten. „Lass mich mit euch käm p fen.“
„Nein, mein Blauauge. Das lasse ich nicht zu.“
Tränen brannten in ihren Sorgen. Diesmal fühlte es sich anders an. Nicht wie sonst. Etwas Böses würde geschehen. „Ich habe Angst. Ich ertrage es nicht, dich zu verlieren.“
„Ich komme zurück.“ Nocona wich vor ihr zurück. „Das schwöre ich dir. Wartet auf mich. Ihr seid der Grund, warum ich lebe. Deswegen komme ich zurück. Bleib bei unserem Sohn und warte auf mich. Ve r sprich es mir.“
Etwas an seiner Stimme erstickte jede Entschlossenheit in Naduah, sich über diese Bitte hinwegzusetzen.
„Ich verspreche es“, hörte sie sich flüstern.
Makah, 2011
G
leichzeitig öffnete n sie die Augen. Eine Weile lagen sie lautlos atmend nebeneinander, so fest ineinander verschränkt, wie es ihre Körper zuließen, sahen sich an und lasen in den Geda n ken des anderen.
Das Gefühl, aus einer gemeinsamen Vision zu erwachen, Arm in Arm zurückzukehren von einer Reise aus einem Leben, das man vor langer Zeit geteilt hatte, war unbeschreiblich.
Als Sara den Mund öffnete, um etwas zu sagen, legte er ihr sanft einen Finger auf die Lippen. Er sah den Schmerz in ihren Augen, die Enttä u schung und die Wut. An jedem dieser Gefühle trug er die
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