Nocona: Eine Liebe stärker als Raum und Zeit
Topsannah der Frau. Dann ran n te sie. Rannte wie von Furien gejagt aus dem Haus und der offenen We i te der Prärie entgegen. Dort draußen hinter dem Horizont wartete er. Seit so vielen Jahren. Sie musste es schaffen! Sie musste! Alles würde gut we r den, wenn sie wieder zu Hause war. Bei Nocona, Quanah und Pecan. Bei ihrer einzig wahren Familie.
Sie musste laufen. Immer weiter laufen. Niemals würde man sie wieder einsperren. Ihre Beine waren einst stark gewesen, damals, als sie mit dem Wind gerannt und mit dem Sturm geritten war. Doch jetzt, nach langen Jahren der Trauer und des Gefangenseins, versagten sie ihr den Dienst.
Naduah stürzte. Das Kind glitt aus ihren Armen und rollte über sta u bige Erde. Entsetzen durchfuhr sie. Hatte Topsannah sich wehgetan? Nein, sie weinte nicht. Lag ganz still da. Tapfere Kleine. Sie wollte zu ihrer Tochter hinüberkriechen, doch jemand packte sie bei den Schu l tern. Sie schrie und schlug um sich. Niemals würde sie zurückgehen. Niemals. Lieber starb sie an Ort und Stelle. Ihr Leben war dort draußen. Dort, wo ihre Seele frei atmen konnte. Nur deshalb war Topsannah krank. Sie musste zurückkehren, um ihre Tochter zu heilen.
Schwärze holte sie ein. Dicke, pechschwarze Stille.
Vergingen Tage? Monate? Oder nur Augenblicke?
Erkenntnisse waren sie auf sie ein gestürzt, die sie nicht ertragen kon n te.
Sie saß auf ihrem Bett und starrte auf das Messer. Blut floss aus tiefen Schnitten an ihren Handgelenken. Mit letzter Kraft setzte sie die Klinge erneut an und zog sie durch ihr Fleisch. Zweimal, dreimal. Jeder Grund, am Leben zu bleiben, war ihr genommen worden.
„Niemals“, flüsterte sie in der Sprache ihres Volkes. „Ich bin keine von euch. Ich habe nie zu euch gehört. In meinen Adern fließt das Blut der Nunumu. Nichts lebt ewig, nur die Erde und die Berge.“
Jemand packte sie und drückte sie nieder. Sie wehrte sich, bis ihre Kräfte am Ende waren. Draußen strich der Wind um das Grab ihrer Tochter und bewegte sich in ihrem Herzen. Erinne r te sich Topsannah noch daran, wie das Gras gerochen hatte, dort, wo ihr wahres Zuhause lag? Erinne r te sie sich an die Stimme ihres Vaters? Nach einer Weile fühlte Naduah nichts mehr, vernahm nur noch den Ruf der anderen Welt, wo ihre Familie auf sie wartete.
„Nocona“, wisperte sie. „Ich komme zu dir.“
Fern hörte sie, wie man einen Arzt rief. Das Bettlaken unter ihrem Körper troff vor Blut. Auf dem Schaukelstuhl lag noch immer Topsannahs Decke, selbst gewebt vor einer Ewigkeit in ihrem wahren Zuhause. Einst hatte sie tagelang in diesem Stuhl gesessen, ihre Tochter im Arm und den Blick in die Ferne gerichtet. Bis vor einigen Tagen der Moment gekommen war, an dem sie begriffen hatte, dass es hinter den Bergen keine Heimat mehr gab. Ihr Dorf hatte man vernichtet, der Mann, den sie über alles liebte, war tot. Sie spürte es. So, wie man spürte, wie der Wind des Sommers zu dem des Winters wurde. Seine Stimme in ihrem Herzen war verklungen, doch dafür hörte sie jetzt etwas anderes. Den Ruf der anderen Welt.
„Mein Kind“, raunte eine Stimme. „Wir geben dich nicht auf. Hier gehörst du her. Hierher. Alles wird gut.“
„Nein.“ Sie wisperte es mit letzter Kraft. „Lasst mich zu Nocona. Lasst mich zu meinen Söhnen.“
„Möge Gott deiner Seele gnädig sein. Sofern die Wilden sie dir gela s sen haben.“
„Nein. Ihr seid es, die seelenlos sind . Nocona , ich bin bei dir. Hörst du mich nicht? Bring mich fort. Bring mich nach Ha u se.
N ur n och einmal kehrte sie in die Wirklichkeit zurück. Sie lag auf i h rem Bett und starrte an die Decke. Ihr Körper war nur noch ein Sack, in dem Knochen lagen. Neben ihr stand Suppe, wie jeden Tag, doch sie rührte sie nicht an. Ebenso wenig wie das Wasser oder den Tee oder die Milch.
Dämmernd und reglos wartete sie auf ihre Erlösung. Alles wurde dumpf. Warm und weich. Sie schwebte. Ihr Herz kämpfte, eroberte sich jeden Schlag, bis es endlich Ruhe gab. Es war still in ihrer Brust. Endlich.
Makah, 2011
M
akah erwachte von seinem eigenen Keuchen. Er fuhr hoch, stolperte über etwas, fiel der Länge nach zu B o den und spürte, wie der Aufprall seinen Körper durc h zuckte.
Wo war er? Um Himmels willen, was war passiert?
In seinem Bauch brannte ein gewaltiger Schmerz. Er fühlte es noch immer. Das Messer, das sich hineinbohrte, der sich steigernde Druck, dann das Aufklaffen von Haut und Fleisch. Schließlich der Ruck, der die Klinge umdrehte und bis
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