Nocona: Eine Liebe stärker als Raum und Zeit
Mahto deutete auf den Zelteingang. „Ani peh ksto.“
Die Last der gesamten Welt schien auf ihren Schultern zu liegen. Sie fühlte sich schwach und hilflos, jeder Schritt war schwer wie Blei. Sie bückte sich, schlüpfte in das dämmrige Innere des Zeltes und hörte, wie das Fell hinter ihr zufiel. Sie war allein.
Nein, nicht ganz allein. Neben dem flackernden Feuer lag Nocona.
Flammenschein spielte auf seiner Haut, dort, wo sie nicht von Ve r bänden bedeckt war. Ein schwarzrotes Plaid wand sich zerknüllt um seine Hüfte. Cynthias Blick streifte die von der Decke hängenden Krä u terbündel, deren Duft das Zelt erfüllte und sich mit einem Aroma misc h te, das sie an ranziges Fett erinnerte. Schwach, aber wie ein drohendes Omen, lag darunter der Geruch von Krankheit. Jener klamme, bittere Geruch, vor dem sie sich seit dem Tod ihrer Schwester fürchtete.
Vorsichtig sank sie neben Nocona nieder. Sie streckte eine Hand aus und berührte seine Wange. Die Hitze des Fiebers brannte auf den Spi t zen ihrer Finger und weckte Erinnerungen, denen sie sich nicht ausli e fern wollte. Sie betrachtete die langen, dichten Wimpern des Jungen. Sie zitterten manchmal, als würde er jeden Moment die Augen öffnen. Seine Lippen waren voll und blass, sein langes Haar zerzaust. Tränen liefen über ihre Wangen. Wie er da vor ihr lag, so schön, hilflos und bedeckt von kaltem Schweiß, haftete ihm etwas unendlich Trauriges an. Sein Anblick entfachte den Wunsch in ihrem kindlichen Verstand, ein Wu n der zu bewirken. Doch weder besaß sie magische Kräfte noch M e dizin, und so tat sie das Einzige, was ihr einfiel.
Sie legte sich neben Nocona, bettete ihren Kopf auf seine Brust und hoffte, dass allein ihre von Gott gewollte Nähe half, ihn zu heilen. Viel zu langsam klang das Schlagen seines Herzens. Sie malte sich aus, wie der schnelle Rhythmus ihres Herzens auf ihn überging, wie ihre Kraft die seine wurde und ihre Stimme ihn in der Dunkelheit des Jenseits erreic h te, um ihn zurückzuführen .
Leise begann Cynthia, das Lied des Spaniers zu singen. Manchmal hob sie den Kopf und legte ihre Lippen auf Noconas Wange, erfüllt von einer wonnigen Hitze, die sie an einen Tadel ihres Vaters denken ließ.
„Für unzüchtige Gedanken kommst du in die Hölle!“
Silas Glauben nach war sie bereits unzüchtig gewesen, weil sie mit dem Nachbarsjungen auf einem Haufen aus grob gemahlenem Mais gespielt hatte. Was würde Vater nur sagen, wenn er sie jetzt sehen könnte? Sie lag neben einem halb nackten Jungen, der fast schon ein Mann war, sie be t tete ihren Kopf auf seine Brust, strich mit den Fingern durch sein Haar und schmeckte das Salz seiner Haut auf ihren Lippen. Noconas Fieber schien auf sie überzuspringen. Ihr wurde schwind e lig, doch sie ließ ihn nicht los.
„Frà Martino, campanaro . Dormi tu? Dormi tu ? Suona le campane, suona le campane ! Din don dan, din don dan.”
Von draußen begleiteten sie die Rufe der Ziegenmelker. Cynthia liebte diese Vögel. Wie Motten schwirrten sie durch das Mondlicht, elegant und lautlos, trösteten mit ihrem Lied all jene, die keinen Schlaf fanden. Noconas Leben lag in ihrer Hand. Sie würde ihn zurückholen. Deshalb lebte sie noch und deshalb war sie hier. Sie hatte so viel wiedergutzum a chen.
Cynthia lauschte seinem Herzschlag und sang ihr Lied. Immer wieder und wieder, bis zwei Gestalten in das Zelt huschten und sie aufschrec k ten. Wollte man sie fortbringen? Nein, es waren nur die beiden Frauen. Sie trugen Schälchen und seltsame Dinge herein, stellten sie auf das Bisonfell und schlichen wieder hinaus. Das alles geschah so leise und schnell, als wären zwei Geister durch das Zelt geweht.
Argwöhnisch betrachtete sie die ihr gebrachten Speisen, deren aufste i gender Duft ihr bewusst machte, wie hungrig sie war. Sie nahm einen Stock mit aufgespießtem Fleisch, schnupperte daran und biss hinein. Unter der schwarzen Schicht war saftiges Rosa und Fett, das auf ihrer Zunge zerlief. Köstlich. Mahtos Proviant hatte ihr schon besser g e schmeckt als der vorzüglichste Maisbrei, doch das hier war um Längen herrlicher. Sie schlang das Stück hinunter, nahm sich noch ein zweites und drittes, griff schließlich mit einer Hand in den Brei, der in einer Ri n denschüssel lag, und stellte fest, dass er ebenfalls köstlich war. Vielleicht war es nur der Hunger, der ihr diesen berauschenden Geschmack vo r gaukelte. Vielleicht die Tatsache, dass sie in ihrem Leben bisher keinen Überfluss erlebt hatte
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