Nocona: Eine Liebe stärker als Raum und Zeit
etwas murmeln und stieg aus.
Lärm, Asphaltgeruch. Surreale Wirklichkeit. Die andere Welt jenseits des Schlafes zog an ihr. Lockend, sehnsuchtsvoll. Sie wollte wieder z u rück. Nocona war noch immer dort, wohin er nicht gehörte. Das F o yer des Verlagsgebäudes erschien ihr fremdartig, geradezu unheimlich in seiner gläsernen Riesenhaftigkeit, als wäre sie ein Mensch aus ferner Vergangenheit, den die Moderne überforderte. Über dem Empfangstr e sen flackerten auf einem kinoleinwandgroßen Fernsehbildschirm die aktuellen Nachrichten. Am liebsten hätte sie sich i r gendwo hingelegt und weitergeträumt. Aber das lag außerhalb ihrer Möglichkeiten. Ein langer Arbeitstag wartete darauf, bewältigt zu we r den.
„Halb so wild“, sprach sie sich Mut zu. „Morgen bist du wieder da, wo du hingehörst.“
Makah, 2011
E
in weiterer Tag war mit dem guten Gefühl, alles getan zu haben, was in seiner Macht lag, zu Ende gegangen. Vor M ü digkeit konnte er sich kaum auf Cezis Rücken halten. Um wach zu bleiben, teilte er das dicke, dunkelbraune Winterfell des Heng s tes mit den Fingern, malte Zeichen hinein und strec k te sich alle paar Minuten . Jeder Knochen im Leib tat ihm weh, aber es war ein Schmerz, der ihm von Dankbarkeit erzählte. Von glücklichen Blicken und der Gewissheit, mehr denn je gebraucht zu werden. In diesem Wi n ter nahm die Arbeit kein Ende. Ein Dutzend Wagenladungen voller Holz hatte er mit drei Helfern an ihre Bestimmungsorte geschleppt und dort fein sä u berlich aufgestapelt. Drei vom Schnee beschädigte Dächer waren rep a riert wo r den, er hatte als Seelsorger fungiert, Julies Kopfkino angeheizt, zwei Autos zusammengeflickt, einen Hund aus einem unges i cherten Schacht befreit und gefühlte hundert Tonnen Schnee gescha u felt.
Mit jedem Tag wuchs ihm und den anderen Helfern die Arbeit mehr über den Kopf, aber nichts auf dieser Welt hätte ihm mehr Motivation geben können als das Wissen, ein unverzichtbarer Teil im Leben der Reservats - Bewohner zu sein. Welcher Mensch war schon glücklicher als der, der am Morgen aufwachte und den Sinn seines Daseins kannte?
Schneeflocken rieselten aus dem grauen Himmel herab. Kalte Winde fegten ihm die Kristalle ins Gesicht, ließen die Haut taub werden und gaben ihm das Gefühl, seinen Körper zu verlieren. Ein schöner Geda n ke. Hätte er keinen Körper mehr, würde er als Geistwesen eine Ewigkeit mit Schlafen verbringen. Anschließend würde er essen, bis es ihm zu den Ohren rauskam, und dann wieder schlafen. Einfach nur schlafen. Aber dieser Zustand hatte noch Zeit. Er würde hierbleiben, solange es möglich war. Und helfen, solange es möglich war.
Makah dachte erneut mit Bedauern an seinen Pick- up , der heute Mo r gen mit mächtigem Getöse und einer Rauchwolke endgültig in die ew i gen Jagdgründe eingegangen war. Sehr zum Leidw e sen Isabellas, denn so war eine der dri n gend benötigten Ladeflächen ausgefallen. Hatte er nicht noch vor K urzem behauptet, die Karre würde ihn nie im Stich lassen? So viel d a zu. Eine weitere Reparatur brachte nichts mehr, also musste ein neuer Wagen gekauft werden. Aber wovon? Der Verkauf der Kunstg e genstände reichte ger a de, um die nötigsten Kosten abzudecken und Isabella mit ein paar Tropfen auf zu viele heiße Steine zu unterstü t zen. Zum Sparen blieb nicht viel übrig , seit er ihr unter die Arme griff.
Vermutlich würde sein Vater postwendend als Poltergeist zurückke h ren, wenn er erfuhr, dass Makah von all dem Geld, das er aus Europa mitgebracht hatte, so gut wie nichts mehr besaß . Die letzten Erinneru n gen, die er seine n Eltern mitgegeben hatte , waren nicht besonders gut. Er hatte sie zu den Behandlungen genötigt , sie ständig zur Klinik gekarrt und mit seiner Wut tra k tiert , die sich einzig und allein gegen den Lauf der Dinge richtete . Dabei hatten sie nur ganz in Ruhe sterben wollen. Zu Hause. An der Seite ihres Sohnes. D a mals, als er noch gegen den Strom geschwommen war, hatte er weder die Umstände seines Lebens noch das Sterben akze p tieren können. Und schon gar nicht das Schicksal, das durch und durch gute Menschen gnadenlose bestrafte und ve r nichtete.
Die Schuldgefühle hätten ihn um ein Haar zugrunde gerichtet. Wä h rend er mit einer schönen Frau durch die Weltgeschichte gereist war, hatte eine dubiose Erdgasfirma ein en Teil des Reservats aufg e kauft, um in einem als Fracking bezeichneten Verfahren hochgiftige Chemikalien zwecks Freisetzung des Erdgases
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