Nocona: Eine Liebe stärker als Raum und Zeit
ein Skunk. Dann hätte er immerhin sein Krafttier gekannt. Aber alles um ihn herum bestand aus schweigender Leere und Trübsal. Langsam kroch die Verzweiflung in ihm hoch. Seit Tagen saß er hier und sah nichts. Keinen Geist, keine Vision.
Nocona atmete tief und regelmäßig und versuchte, seine Sinne beisammenzuhalten . Wie sollte er bei diesem nebelhaften Grau irgende i nen Haltepunkt finden? Noch nie hatte er von einem Krieger gehört, der während seiner Visionssuche gar nichts sah. Das musste ein böses Omen sein. Vielleicht nahte sein Tod und er sah nichts, weil es keine Zukunft für ihn gab.
Kaum war ihm dieser Gedanke gekommen, hörte er etwas. Eine Ki n derstimme, die ein Lied sang. Sie schien überall zu sein, schwoll auf und ab, liebkoste ihn aus der Ferne und klang so lieblich, dass jede Wut aus seinem Herzen wich. Mal war sie ganz nahe, mal glich sie einem weit entfernten Säuseln.
„Ihr gabt mir den Namen Ptesawin. Ich bin hier, um dir etwas zu schenken.“
Vor ihm im Nebel tauchte eine kleine Gestalt auf. Es war ein Mädchen mit einem Gesicht so zart wie das eines Zaunkönigs .
„Ptesawin?“ Nocona ließ die Decke von seinen Schultern gleiten und richtete sich auf. Jeder Knochen tat ihm vom tagelangen Sitzen weh, doch er kümmerte sich nicht darum. „Du bist es, Heilige Mutter?“
„Das ist nur einer von vielen Namen, die man mir gab.“
Das Mädchen kam näher heran. Ihre Haut war die eines weißen Ki n des, doch es trug ein Hemd aus hellem Rehleder, wie es die Nunumu nähten, und seine winzigen Füße waren verbunden.
„Meine Stimme bringt dich zurück. Hör ihr zu, Wanderer.“
Die Heilige Mutter blieb hinter den aufgespannten Seilen stehen und lächelte. Ihr Haar, das bis zu den Hüften h in abreichte , war gewellt und hellbraun wie der Pelz eines Bisonkalbes.
„Deine Zeit ist noch nicht gekommen. Erst, wenn ich dir das vierte Mal erscheine, will ich dich sterben lassen.“
„Warum bist du ein Kind?“
„Es ist nur eine Gestalt, die ich nahm, um dich nicht zu erschrecken.“
„Ich kenne das Mädchen.“ Er blickte in ihre außergewöhnlichen A u gen, die die Farbe heiliger Türkissteine besaßen. Der Gestank nach ve r brannter Haut kam ihm in den Sinn. Er hörte Feuer prasseln. Heißes Blut floss in pulsierenden Strömen über seine Haut. Verwundete schrien. „Woher kenne ich sie?“
„Du liegst im Sterben, Wanderer, und sie ist in diesen Momenten bei dir. Sie wird immer bei dir sein. Selbst über dieses Leben hinaus.“
„Dann ist das ein Traum?“
„Ja. Aber wir haben keine Zeit mehr. Nimm ein Stück vom getrockn e ten Fleisch aus deinem Beutel und halte es hoch. Ich will dir deinen Schutzgeist bringen. Wenn er kommt, wird er hungrig sein.“
„Ich habe kein Fleisch bei mir.“
Ptesawin neigte den Kopf und sah dabei aus wie ein kleiner, neugier i ger Vogel. „Es ist etwas in deinem Beutel. Hol es heraus.“
Er gehorchte. Tatsächlich fanden seine tastenden Finger einen z u sammengerollten Streifen trockene s Fleisch. Er hielt seinen Arm hoch, streckte die Hand aus und bot dem Schutzgeist, der kommen würde, seine Gabe an.
„Gut“, sagte Ptesawin. „Wenn du wieder bei den Lebenden bist, dann suche nach dem Knochen eines Hähers, nach einem gelben Flussstein, einer Bärenkralle und einem Stück Rinde deines heiligen Baumes.“
„Was ist mein heiliger Baum?“
„Du findest ihn weit im Westen hinter dem Gebirge. Er ist so hoch, dass sein Wipfel über die Wolken reicht, und so dick, dass viele Männer nötig wären, um seinen Stamm zu umfassen.“
„Einer der Rotholzbäume?“ Nocona glaubte, sich verhört zu haben. „Das ist mein heiliger Baum?“
Ptesawin nickte. „Suche danach, nimm ein Stück seiner Rinde und tr a ge es mit den anderen Dingen immer bei dir. Ich werde dich jetzt verla s sen, Wanderer. Noch zweimal wirst du mich sehen, und wenn du mich das vierte Mal siehst, werde ich kommen, um dich in die andere Welt zu führen. Zurück nach Hause.“
Die Heilige Mutter lächelte ihm noch einmal zu, dann löste sie sich auf. Lautlos und heimlich wie in der Sonne schmelzende Nebelschleier. Z u rück blieb eine Leere, die ihm das Herz zusammenschnürte. Der kalte Schatten des Alleinseins drückte auf seine Seele. Nocona wusste, dass er gefangen war in einer Zwischenwelt, die weder im Hier noch im Jetzt lag. Und er wusste, dass er zurückkehren musste.
Über ihm erklang ein hoher Schrei. Ein Schatten stieß aus dem Grau des Himmels herab. Mächtige
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