Nocona: Eine Liebe stärker als Raum und Zeit
starrte ihn an. Stumm und verblüfft. Schnell wie ein Wiesel sprang sie auf und stürmte aus dem Zelt hinaus. Enttäuschung befiel ihn. Ihre plötzliche Abwesenheit hinterließ schale Leere, und als seine Augenlider wieder schwerer wurden, kaum dass sie verschwunden war, befiel ihn der Gedanke, dass allein dieses zarte Wesen ihm die nöt i ge Kraft schenkte, zu den Lebenden zurückzukehren.
Mit der Zufriedenheit eines zu Tode Erschöpften mutmaßte er, dass es keine stärkeren Totems für einen Mann geben konnte als die, die Ptesawin ihm gebracht hatte. Der Rotholzbaum, der Adler. Unsterblic h keit und kämpferische Kraft. Mit diesem Gedanken und einer großen Hof f nung im Herzen lieferte er sich erneut der Dunkelheit aus.
Als er das nächste Mal erwachte, schien die Sonne heiß durch das Leder des Tipis. Reglos lag er da und blinzelte in das goldfarbene Licht hinauf. Staubflocken tanzten umher. Irgendwo in einer dunklen Ecke summte ein Insekt. Als seine Gedanken halbwegs in die Wirklichkeit zurückg e kehrt waren, versuchte er erneut, sich aufzurichten. Ihm war, als hätte er Ewigkeiten lang geschlafen. Jeder Muskel seines Körpers schmerzte, doch immerhin gehorchten sie ihm wieder.
Seine Gedanken kreisten zuerst um das Mädchen. Erst dann erinnerte er sich an Tatezi und spürte, wie sein schwereloses Staunen zu einer drückenden Last wurde. Hatte jemand das Herz des Pferdes mitgeno m men und es am Fluss begraben? Die Trauer wollte ihn überwältigen, doch er verschloss seinen Geist davor. Vorsichtig betastete er den Ve r band aus Rehleder, der sich um seine Brust schlang, zupfte daran und fühlte mehrere steife Fäden. Energisch begann er, Streifen für Streifen abzuwickeln. Es fand sich kaum Blut auf dem Leder, lediglich die unter s te Lage war von ein paar Flecken verschmutzt. Vorsichtig betastete er das sorgfältig vernähte Schussloch auf seiner Brust. Die Kugel hatte sein Herz nur knapp verfehlt. Ein Fingerbreit weiter links, und er hätte seinen Platz am Feuer der Großen Jäger eingenommen.
Die Haut um die Wunde herum fühlte sich dünn und geschwollen an. Wie eine überreife Frucht. In stoischer Ruhe begann Nocona, einen Faden nach dem anderen herauszuziehen. Das Zwicken der Prozedur trieb ihm Tränen in die Augen, doch zufrieden war er erst, als er den letzten Faden in das Feuer geworfen hatte. Matt wie ein Greis nahm er sich eine der rostbraunen, schwarz gemusterten Webdecken, die in e i nem Stapel neben der Feuerstelle lagen, legte sie um seine Schultern und stemmte sich hoch.
Kaum stand er aufrecht, begann sich das Zelt zu drehen. Die bemalten Wände verschwammen zu wabernden Strudeln und zogen sich in die Länge wie frische Sehnen. Blinzelnd hielt er sich an einem Zeltpfosten fest. Wie erbärmlich. Seine Beine zitterten wie die eines neugeborenen Rehs, sein Rücken tat weh und die Hände waren so schwach, dass kaum etwas mit ihnen anzufangen war. Aus reiner Sturheit tat er einen Schritt und fand sich, nachdem ihm ein Herzschlag lang schwarz vor Augen geworden war, auf dem Boden kniend wieder. Beim verrotteten Kojoten, so muss sich der alte Woksapa mit seinen einhundert Wintern fühlen. Nocona stieß einen Fluch aus. So weit würde es noch kommen, dass seine Mutter ihm eine Kürbisflasche zum Wasserlassen brachte oder ihm das Essen kleinschnitt.
D ie nächsten Schritte ließen sich glücklicherweise leichter bewältigen. Er hof f te, von niemandem gesehen zu werden, doch kaum hatte er das Kuns t stück vollbracht, seinen schlotternden Körper aus dem Zelt zu bugsi e ren, fiel ihm seine Mutter in die Arme.
„Mein Wanderer.“ Vor Schmerz biss er sich auf die Zunge, als Peta ihn an ihre Brust zog. „Du bist wieder bei uns. Wenn du nur wüsstest, wie viele Tage und Nächte wir um dich gebangt haben.“
„Wie viele waren es denn ?“
„Drei Tage nach der Schlacht. Nachdem Mahto und das Mädchen wieder gegangen sind, waren es noch einmal sechs Tage. Manchmal warst du wach, sodass ich dir Suppe und Wasser geben konnte. Nicht ein M al habe ich mich vom Zelt entfernt. Ich war immer bei dir, und wenn ich gegangen bin, dann nur, um hier draußen zu sitzen.“ Peta wich z u rück und beobachtete mit forschendem Blick, wie er die Wunde betast e te. „Du hast dir die Fäden selbst h in ausgezogen , habe ich r echt?“
Nocona spitzte die Lippen, ohne zu antworten.
„Du kannst es mir sagen. Ich kenne dich doch.“
Er gab sich mit einem Nicken geschlagen. Seine Zunge fühlte sich an wie eine
Weitere Kostenlose Bücher